Mit einem Hauptdarsteller in dem Rolli seines Lebens

Das internationale Kurzfilmfestival „Look & Roll“ zeigt im Bremer City 46, dass Kino in Sachen Inklusion viel Nachholbedarf hat. Und riesige erzählerische Potenziale

„Der beste Weg“ versucht sich dem Film-Erleben blinder Menschen anzunähern Foto: Angelika Herta

Von Wilfried Hippen

Carsen stottert! Und zwar so extrem, dass außer seinem Vater, der gelernt hat, die Zeilengewitter seines Sohnes zu interpretieren, niemand verstehen kann, was er sagt. Seine innere Stimme spricht dagegen flüssig und wortgewandt, und auch online ist er in seinen Textnachrichten ein eloquenter Dialogpartner. Doch als Ellie, mit der ihn seit einem halben Jahr eine digitale Romanze verbindet, endlich ein Treffen vorschlägt, stürzt ihn dies in eine tiefe Krise.

Diese Geschichte erzählt der britische Filmemacher Benjamin Cleary in seinem Kurzfilm „Stutterer“ so originell, einfühlsam und tiefgründig, dass er dafür im Jahr 2016 mit dem Oscar als „Best Live Action Short Film“ ausgezeichnet wurde. Und so passt der Film ideal in das „Beuteschema“ des Baseler Kurzfilmfestivals „Look & Roll“, denn das ist seit 2006 Filmen über Leben mit Einschränkungen, mit Behinderungen und im Alter gewidmet.

Die Findungsgruppe des Festivals, die zur Hälfte aus Betroffenen und zur Hälfte aus Filmschaffenden besteht, durchforstet die Kurzfilmprogramme anderer Festivals und sucht dabei Filme, die thematisch zu ihrem Konzept passen, aber auch künstlerisch überzeugend gestaltet sind. In der Schweiz ist das Festival inzwischen so erfolgreich, dass es auf Tour durch die anderen Städte des Landes geht. Auch die Bremer Filmemacherin Astrid Menzel wurde 2018 mit ihrem Kurzfilm „Nicht im Traum“ eingeladen, und sie war so begeistert von ihrem Festivalbesuch, dass sie Ilona Rieke vom Filmbüro Bremen überzeugte, eine norddeutsche Dependance davon in Bremen zu gründen.

Und so läuft jetzt zum zweiten Mal eine kleine Ausgabe des Festivals im kleinen Bremer Kino City 46. In Basel findet „Look & Roll“ alle zwei Jahre statt. Dort gibt es verschiedene Programmblöcke, einen internationalen Wettbewerb und einen Publikumspreis. In Bremen will die Organisatorin Ilona Rieke das Festival erst einmal vorstellen.

Anstatt Teile des aktuellen Programms von Basel nachzuspielen, hat sie deshalb selbst ein „Best of“ kuratiert. Darin werden Filme aus den früheren Ausgaben gezeigt, wie der oscarprämierte „Stotterer“.

Neben ihm laufen in den Programmblöcken „Leben mit einer Behinderung“ und „Leben im Alter“ zehn andere Filme, die zwischen 5 und 27 Minuten lang sind. Die Filme werden „barrierefrei“ gezeigt, und dies bedeutet nicht nur, dass das Kino auch für Rollstuhlfahrer ausgestattet ist. Jeder Film wird fürs Festival „erschlossen“, sprich eine Audio­deskription für Sehbehinderte und eine deskriptive Untertitelung für Hörgeschädigte werden angefertigt. Die Filmgespräche werden außerdem simultan in Gebärdensprache übersetzt.

Bei der Auswahl geht es Rieke um eine große thematische und stilistische Bandbreite: So gibt’s im Programm eine französische Komödie und einen experimentellen Dokumentarfilm.Die deutsche Regisseurin Angelika Herta hat sich vorgenommen, in „Der beste Weg“ zu zeigen, wie eine blinde Person einen Film wahrnimmt: per Schwarzbild, auf dem allerdings all das in Zwischentiteln zu lesen ist, was gesprochen wird.

Jeder Film bekommt Untertitel für Hörgeschädigte und eine Audiodeskription

Die Sprechstimme gehört dabei der Computerstimme „Steffi“, die zu den Standard-Optionen des integrierten Bildschirmleseprogramms „Voice Over“ gehört. Dessen Funktion, optische Signale vom Bildschirm in akustische zu übersetzen, wird hier umgekehrt: Das Sprachprogramm spricht geschriebene Texte, in denen ein blinder Mensch mit einem zum Teil sehr bitteren Witz Alltagserfahrungen wie den Besuch eines Supermarktes schildert.

Neben den beiden Kurzfilmprogrammen wird es am Mittwoch um 15 Uhr ein Special Screening geben. Gezeigt wird dann „Beben“, in Schleswig-­Holstein gedreht, mit dem Hamburger Schauspieler Luis Brandt, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist, als Hauptdarsteller. Nach der Projektion wird Brandt in einem Arbeitsgespräch davon berichten, welche zusätzlichen Vorkehrungen bei den Dreharbeiten nötig waren, damit er als „Jungschauspieler mit Special Effect“ (so seine Beschreibung in der Datenbank „Crew United“) mitarbeiten konnte.

Das verdeutlicht, dass inklusives Kino auf drei Ebenen notwendig ist: Nicht nur die Lichtspielhäuser sollten barrierefrei sein, nicht nur die Filme für alle konsumierbar, sondern es müssen sich eben auch die Arbeitsbedingungen bei Filmproduktionen anpassen.

Look & Roll, City 46, Bremen, 13.–14. 6, 17.30 Uhr