Was ist bloß mit ihm los?

Ein Bundeskanzler stellt die Vertrauensfrage, damit man ihm misstraut – aus Solidarität. Weil er doch nur eines will: das Vertrauen der Wähler zurückgewinnen. Verrückt? Dafür ist ja der Psychiater da

VON MICHA HILGERS

Der Gang zum Psychiater fällt niemandem leicht. Auch uns nicht. Seit Tagen werden wir von einem Mann behelligt, der uns beständig folgenden Sachverhalt erklärt: Er habe sich entschlossen, seinen Getreuen die Vertrauensfrage zu stellen, und zwar damit die Seinen ihm – als Ausdruck Ihres grenzenlosen Vertrauens – selbiges entzögen. Ausgestattet mit diesem vertrauensvollen Misstrauensvotum wolle er sich nunmehr an uns alle wenden, damit wir ihm unsererseits ebenjenes Vertrauen kraftvoll aussprächen, sodass sich seine Arbeit künftig viel leichter, weil mit noch viel mehr Vertrauen ausgestattet, gestalte. Außerdem würden sich dadurch auf wundersame Weise die Mehrheitsverhältnisse auch in einem anderen Gremium ändern, über das wir gar nicht abstimmen. Oder so ähnlich. Sind wir verrückt? Oder ist es er? Aber dafür ist ja der Psychiater da.

Keine Visionen

Unser Experte macht ein besorgtes Gesicht: Zerfahrenheit des Denkens im Sinne einer formalen Denkstörung, findet er. Ob der Mann denn beständig diese Inhalte wiederhole. Wir bejahen, allerdings klinge es stets anders. Perseveration, verkündet er. Ob es denn eventuell auch floride Denkinhalte gebe, will er wissen. Das verstehen wir nicht. Na ja, Dinge, die uns wahnhaft vorkämen, bizarr oder ohne jeden Realitätsgehalt. Ach so, ja klar, er glaube, dass wir ihn alle wiederwählen würden. Nein, das meint der Experte nicht. Vielmehr meine er, ob der Mann Denkinhalte habe, die wir ganz absurd finden. Oder ob er von Visionen spreche.

Denkinhalte? Visionen? Nein, von Visionen ist uns überhaupt nichts bekannt. Er hat eigentlich, wenn wir es genau bedenken, überhaupt keine Inhalte. Nichts. Keine Ideale, keine Entwürfe und schon gar keine Visionen. Nichts, wovon er überzeugt wäre, außer von sich selbst. Oder vielleicht fixe Ideen, die ins Wahnhafte gingen? Ach so, das. Wenn man die Steuern für Kapitalgesellschaften senke, hagele es förmlich Arbeitsplätze. Und sonst? Niemand durfte behaupten, das Haar des Mannes sei gefärbt. Wir glauben, unsren Experten etwas von narzisstischer Primärpersönlichkeit murmeln zu hören.

Der Psychiater denkt an ein Residuum, einen Zustand weitgehender inhaltlicher Leere und Verflachung. Psychisch ausgebrannt sei der Patient, zeige Negativsymptome als Spätfolge einer Schizophrenie. Ob es denn mal eine Zeit der Zerrissenheit, der Getriebenheit gegeben habe, eventuell auch der Fraktionierung?

Jetzt fällt es uns ein: Da war etwas, vor sieben Jahren, um genau zu sein. Jemand aus der Familie, ein gewisser Oskar, habe damals abrupt den Kontakt zu ihm und der Familie abgebrochen, erzählen wir. Und der habe damals gesagt, Autos, so habe er wörtlich gesagt, Autos kaufen keine Autos und das Herz schlage immer noch links. Und dazu den anwesenden Journalisten Schnaps gereicht. Auch keine einfache Persönlichkeit, seufzt der Psychiater.

Ein schwieriger Patient

Unser Psychiater denkt an Ressourcen. Was denn mit der Familie sei? Ungefähr 250 Leute plus Mitarbeiter. Der Arzt ist begeistert: ein so schwieriger Patient mit so vielen Sozialkontakten!

Jetzt müssen wir ihm reinen Wein einschenken: Die Familie habe fast unisono zunächst begeistert auf den Vorschlag reagiert, das Vertrauen zu gewinnen, indem er das Misstrauensvotum seiner Familie erhält, um dann wiederum das Vertrauen zu erhalten. Und jetzt wolle niemand aus der Familie das Misstrauen aussprechen, auch wenn es – wir können es nur wiedergeben – ganz im Vertrauen geschähe, sondern alle weigerten sich, das vertrauensvolle Misstrauen zu bekunden, und würden es anderen zuschreiben, die mit weniger Vertrauen das Misstrauen bekunden würden. Deshalb würde jetzt der engste Kreis, das Kabinett, als Zeichen höchsten solidarischen Vertrauens, das Misstrauen aussprechen dürfen. Oder müssen. Oder so. Hat der Psychiater „Massenpsychose“ gesagt?

Und wie sieht es aus in der Partnerschaft? Das sind dort alle emotional instabile Persönlichkeiten, antworten wir belesen. Die Familie des Patienten, sagt uns der Doc im Hinausgehen mit einer Hand auf der Schulter, wird lange brauchen, um neue Inhalte zu entwickeln. Warum wir uns nicht auf andere beziehen wollten? Schlechter könne es da doch auch nicht sein.

Bevor er uns auch für verrückt hält, sagen wir lieber nichts mehr.

Micha Hilgers ist Psychoanalytiker und Publizist. Unter anderem von ihm erschienen: „Scham. Gesichter eines Affekts“ und „Das Ungeheure in der Kultur“