Mineralkurort San Pellegrino: Der Charme vergangener Grandezza

Als Mineralwasser ist San Pellegrino weltbekannt. Doch kaum jemand kennt den Ort und sein pompöses Grandhotel in den italienischen Alpen.

Ein Brunnen

Reserviert für die Einheimischen – Brunnen im norditalienischen San Pellegrino Foto: Imago

Das Erstaunlichste an den Menschen in San Pellegrino, den Sanpellegrinesi, ist ihre Reaktion auf Tou­ris­t:in­nen. Wenn man mit der Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft, der Spaziergängerin in den Bergen oder dem Rentner auf der Brücke ins Gespräch kommt, fragen sie alle: „Was bringt euch hierher?“, und sind ehrlich überrascht, wenn man erklärt, dass man dort Urlaub machen will. Ihr Erstaunen ist noch größer, wenn man verneint, wegen der luxuriösen, modernen Therme im Ort angereist zu sein. Oder auch wegen des berühmten Mineralwassers, dessen elegante grüne Flaschen in Restaurants auf der ganzen Welt auf dem Tisch stehen.

Die Spaziergängerin, die auf den grünen Wiesen über dem ehemaligen Grandhotel Vergissmeinnicht sammelt, überlegt einen Augenblick und schaut auf die gegenüberliegende Bergkette, hinter der soeben die Sonne versunken ist, und hinab ins Brembo-Tal, aus dem man den Fluss rauschen hört. „Recht habt ihr“, sagt sie, „wir sind hier aufgewachsen, wir sind uns gar nicht bewusst, wie schön wir es haben.“

Dabei war San Pellegrino Terme, unweit vom norditalienischen Bergamo in einem Alpental gelegen, einst Treffpunkt der eleganten Gesellschaft aus Mailand und darüber hinaus. Die Königinnen Margarethe von Italien und Elena von Montenegro erholten sich hier, ebenso Nobelpreis­träger:innen und berühmte Regisseure. Für die noblen Gäste wurde ein majestätisches Grandhotel direkt am Flussufer erbaut. Die Dimensionen des 1904 eröffneten Hotels wirken unproportional für einen Ort mit nicht mal 5.000 Ein­woh­ne­r:innen, der imposante Bau lässt das Tal plötzlich eng wirken.

Man kann nicht anders, als vor dem Gebäude stehen zu bleiben und die Details des Dekors in sich aufzusaugen: Verschnörkelte Metalldekorationen, steinerne Figuren, die die Balkone stützen, eine gigantische, metallisch glänzende Kuppel im Zentrum des symmetrischen Daches. Dunkelrote Blumen auf goldenem Grund sind auf die orange Fassade aufgemalt. Doch die ebenso dunkelroten Fensterläden sind allesamt verschlossen.

Weltläufigkeit vergangener Tage

Heute steht das Grandhotel leer. Das goldene Zeitalter der Kurstadt ist vorbei, die Jugendstilbauten, die im ganzen Ort verteilt sind, versprühen einen teils maroden, teils nostalgischen Charme. Dennoch scheint es, als lebte die Weltläufigkeit vergangener Tage noch in den Genen der Sanpellegrinesi weiter. Anders als in so manchem kleinen Ort in den Bergen hat man hier nicht das Gefühl, als Frem­de:r von misstrauischen Blicken verfolgt zu werden.

Im Grand Hotel erholten sich Königinnen und No­bel­preis­träger:innen

Die Einheimischen sind offen für Gespräche, zum Beispiel Silvia aus dem kleinen Lebensmittelladen neben dem Grandhotel, die mit leuchtenden Augen von dem großen Jugendstilsaal mit Parkettboden im Erdgeschoss des Hotels erzählt, während sie frischen Almkäse und Salami in Papier einschlägt. „Wenn ich nur daran denke, kriege ich immer noch Gänsehaut“, sagt sie. „Dabei sah es vor ein paar Jahren noch aus wie das Haus der Addams Family.“

Tatsächlich wurden das Erdgeschoss und die Fassade in den letzten Jahren einer Schönheitskur unterzogen, die Gemeinde hat sich der Renovierung angenommen, um ei­ne:n In­ves­to­r:in für den Palast am Brembo anzulocken. Seitdem wird das Erdgeschoss unregelmäßig für geführte Besichtigungen geöffnet, wer als Be­su­che­r:in Glück hat, kann sich spontan anschließen. Wer das Grandhotel in Zukunft weiterführen und was damit passieren soll, steht in den Sternen.

Eine weitere Lokalspezialität – Biscotto Bigio

Wer das Hotel verschlossen vorfindet und keine 50 Euro für einen Tag im modernen Spa nebenan ausgeben will, kann einfach die Brücke vor dem Hotel überqueren und sich dem zweitbekanntesten Produkt aus San Pellegrino Terme widmen: der lokalen Keksspezialität Biscotto Bigio. „Bekannt“ heißt in diesem Fall: „Wir verkaufen in der gesamten Lombardei und in Südkorea.“ Das sagt Tommaso, und er muss es wissen.

Er bäckt mit zwei Kol­le­g:innen täglich 800 Kilo der halbmondförmigen Gebäcke. Die wichtigste Zutat ist dabei die Butter, die man schon riecht, bevor man in den mürben Keks hineinbeißt. Er riecht ein wenig nach Karamell und Vanille, doch weder die eine noch die andere Zutat sind im Teig enthalten. Das Geheimnis steckt in der Butter, 99,8 Prozent Fett hat sie und kommt nicht etwa von den umliegenden Almen, sondern aus Frankreich.

„Diese französische Butter riecht intensiv nach Vanille“, erklärt Tommaso. Die Butter für die Kekse sucht er immer wieder neu aus, manchmal kommt sie auch aus Norwegen; es kommt darauf an, welche ihn am ­meisten überzeugt. Schließlich gilt es, eine Tradition zu bewahren. Den Bigio-Keks gibt es seit 1932. Er wurde von Luigi Giacomo Milesi, dem Großvater der heutigen Hotel­lei­te­r:innen, erfunden. „Bigio“ ist die Abkürzung für „Luigi“. Heutzutage ist Tommaso für neue Rezepte zuständig. Seine neueste Kreation sind Kekse mit Salzkaramell, er hat aber auch schon vegane Kekse mit Karitébutter ent­wickelt.

Zurechtgemacht auf der Caféterrasse

Auf der Terrasse des Café Bigio hat man freien Blick auf den Brembo und das Grandhotel. An einem sonnigen Samstagmorgen geht es hier geschäftig zu: Es treffen sich Rennradfahrer, die „due caffè e quattro biscotti Bigio“ bestellen, ein paar Me­di­ziner:innen von dem Kongress, der nebenan stattfindet, und eine Gruppe Wochen­end­aus­flügle­r:innen aus Mailand samt Pudel. Wer nicht in Rennrad- oder Motorradkluft steckt, hat sich zurechtgemacht, die Damen tragen dunkle Sonnenbrillen und goldene Ohrringe.

In den Cafés und Restaurants trinkt man natürlich San Pellegrino, aber auch Acqua Bracca oder Stella Alpina, die anderen Wassermarken aus dem Brem­bo-Tal. Denn San Pellegrino ist nicht die einzige Quelle in der Region, aber im Gegensatz zu seinen Konkurrenten wandte sich das Unternehmen schon in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts mit ausgefeilten Werbekampagnen explizit an eine mondäne, internationale Kundschaft und erlangte so weltweite Berühmtheit.

Nach dem Kaffee lohnen sich ein paar Schritte am Fluss ­entlang zum historischen Sitz des Thermalbads. Es ist das vielleicht marodeste und melan­cholischste Gebäude im Ort. Oberhalb einer überdachten Terrasse mit weißen Säulen prangt in verrosteten Buchstaben der Schriftzug „Acqua S. ­Pellegrino“ unter einem ebenso verrosteten dunkelroten Stern. Dieser Stern ziert bis heute das Etikett der San ­Pellegrino-Wasserflaschen.

Die Holz­tür am ehemaligen Eingang der Therme ist halb von einem Blumenkübel mit zwei mageren Büschen verdeckt, die Rollläden sind heruntergelassen, der Putz bröckelt. Auf einem von der Sonne ausgebleichten Schild sind die Sehenswürdigkeiten des Orts eingezeichnet, es wird auf eine App verwiesen, von der es online keine Spuren mehr gibt.

Wo einst Damen in langen ­Röcken und Herren in Anzügen aus feinstem Tuch am Thermalwasser nippten, steht heute ein moderner Brunnen aus schlichtem Edelstahl. Aus dem silbernen Wasserhahn fließt ununterbrochen Quellwasser, darüber trägt ein weißes Schild mit dem charakteristischen roten Stern den folgenden Hinweis: „Reserviert für die Einwohner von San Pellegrino Terme“. Vielleicht wollen die Sanpellegrinesi ihre Schätze einfach für sich behalten.

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