Kollektiver Freudentaumel an der Bastille

FRANKREICH „Schulden, Arbeitslosigkeit und soziale Not werden nicht mit Sarkozy verschwinden“, warnt der Sozialist François Hollande kurz nach seiner Wahl und plädiert für ein neues Modell der Europapolitik

„Ich liebe euch“, hat der scheidende Präsident Nicolas Sarkozy seinen Anhängern zum Schluss versichert

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Sarkozy, il est parti“ (Sarkozy ist weg), singt eine Gruppe von Frauen mit einem unüberhörbaren Akzent aus den Antillen. Dazu tanzen sie. Der Wahltag war lang, die Nacht des Siegs wird viel zu kurz sein. Niemand will sich dieses Fest entgehen lassen.

Schon hunderte Meter vor der Bastille in Paris ist kein Durchkommen mehr. Auf dem Platz selber wogt eine kompakte Menge von zehntausenden Menschen. Das Gedränge ist beängstigend. Zudem hat die Polizei einige Straßen und damit mögliche „Fluchtwege“ aus unerfindlichen Gründen abgeriegelt. Zum Glück gibt es keine Panik. Im Gegenteil: Die Wahlsieger strahlen, lachen, sie stoßen mit Champagner oder Bier auf ihren Triumph an.

Vielleicht wird erst bei diesem spontanen kollektiven Freudentaumel für Beobachter aus dem Ausland so richtig deutlich, wie verhasst der bisherige Staatschef sein muss. „Man könnte meinen, ein Diktator sei gestürzt worden“, meint auch eine Frau ohne Angst vor einer maßlosen Übertreibung. „Sarkozy en prison“ (Sarkozy ins Gefängnis), rufen im Chor Gruppen von Jungsozialisten, die sich wie Fans bei einer Fußball-WM mit eine Trikolore als „Kriegsbemalung“ auf die Wangen geschminkt haben. Ihr Triumph hat einen Nebengeschmack der Revanche. Sie wollen, dass Sarkozy sich nach dem Ende seiner Immunität als Staatschef wegen illegaler Finanzierung seiner Kampagne von 2007 verantworten müsse.

Zum selben Zeitpunkt leert sich in einer ganz entgegengesetzten Ambiance der Saal „La Mutualité“, wo kurz zuvor Nicolas Sarkozy vor konsternierten und weinenden Anhängern mit Fairness und einer Eleganz, die ihm seine Gegner nie getraut hätten, seine Niederlage eingestanden und seinen Rückzug aus der Wahlpolitik angekündigt hat. „Ich liebe euch“, hat der scheidende Präsident ihnen zum Schluss versichert.

Auf der Bastille steigt die Stimmung auf den Siedepunkt, als der gewählte Präsident François Hollande erst spät nach Mitternacht auf der Bastille eintrifft. „Merci, merci“, ruft er ihnen zu, er mahnt die Anhänger, dass er und seine zukünftige Regierung nun eine parlamentarische Mehrheit zur Verwirklichung des Programm brauchten.

„Die Probleme werden nicht mit Nicolas Sarkozy verschwinden, er wird weder die öffentlichen Schulden noch die Arbeitslosigkeit oder die sozialen Notlagen mit sich forttragen“, sagt der designierte Präsident. Hollande zählt nun auf Europa. Ohne Unterstützung durch die EU und durch die Zentralbank in Frankfurt gibt es kein Wachstum. Darum wünscht er eine aktivere Rolle der EZB, um die Wirtschaft der Eurogruppe durch Investitionen in die Infrastruktur anzukurbeln. Gegen bisherige Widerstände aus Berlin fordert er die Schaffung von Eurobonds und mehr Kredite für die Europäische Investitionsbank.

Ohne Zusage für Verhandlungen über solche Initiativen durch die EU wird Frankreich den Fiskalpakt nicht ratifizieren. Hollande bezweifelt nicht, dass die Schulden abgebaut werden müssen. Sein Vorschlag an die europäischen Partner, namentlich Deutschland: keine automatische Schuldenbremse ohne Wachstumspakt. Einseitige Restriktionen führen zur Rezession und sind sozial und politisch inakzeptabel. Das zeigen die Reaktionen der europäischen Wähler.

Hollande plädiert für ein neues Modell einer Europapolitik, das die Zustimmung der Bürger braucht und auch finden kann. In einem Punkt waren Hollande und Sarkozy einer Meinung: Frankreich braucht Europa, aber Europa braucht auch Frankreich.

Hollandes Wahl ist eine Botschaft an Europa, die den liberalen Befürwortern einer drastischen Sanierung der Finanzen in die Knochen fährt, den Anhängern einer keynesianischen Wirtschaftspolitik aber neuen Auftrieb gibt. Dass EZB-Boss Mario Monti und einige der europäischen Regierungschefs nun auch von der Notwendigkeit der Wachstumsförderung reden, ist für Hollande eine Ermutigung. Mit Angela Merkel hat er sich noch am Wahlabend auf eine pragmatische Verständigung geeinigt. In der Vergangenheit arbeiteten Deutschland und Frankreich dann am erfolgreichsten zusammen, wenn ihre Spitzenvertreter nicht derselben politischen Familie angehörten.