Roderich Kiesewetter über Nato-Gipfel: „Deutschland ist Kriegsziel“

Der CDU-Verteidigungspolitiker Kiesewetter fordert weitere Sanktionen für Russland. Zudem müsse auf Putin klarer reagiert werden.

Himmel, Wiese und Waffen

Luftverteidigungssystem auf dem Flughafen Vilnius Foto: reuters

Herr Kiesewetter, am Dienstag beginnt der Nato-Gipfel. Welches Zeichen erhoffen Sie sich von diesem Treffen in Vilnius?

ist Außen- und Verteidigungs­experte der CDU. Der Oberst a. D. war von 2011 bis 2016 Präsident des Verbands der Reservisten der Bundeswehr.

Roderich Kiesewetter: Zunächst einmal, dass die Türkei und Ungarn ihre Vorbehalte aufgeben, damit Schweden Nato-Mitglied werden kann.

Derzeit stocken die Verhandlungen ja.

Ungarn macht das, was die Türkei macht. Man hat bereits signalisiert, wenn die Türkei ihre Vorbehalte aufgibt, dann würden sie es auch tun. Aber neben dem Nato-Beitritt Schwedens ist es wichtig, dass die Ukraine ganz klare Sicherheitsgarantien erhält. Dazu zählt auch, dass die militärische und zivile Unterstützung für die Ukraine aufgestockt wird.

Die Ukraine wirbt um einen schnellen Nato-Beitritt. Schließen Sie das aus?

Entscheidend ist, dass die Ukraine die Chance hat, der Nato beizutreten, sobald die Sicherheitsbedingungen es zulassen. Das muss ganz klar gesagt werden und darf nicht mehr angezweifelt werden. Es darf auch keine doppeldeutigen Formulierungen geben, sondern eine klare Perspektive – auch für die ukrainische Bevölkerung. Die Ukraine muss als Ganzes erhalten bleiben. Alles andere wäre eine Einladung an Russland, bestimmte Gebiete besetzt zu halten. Es braucht jetzt als Zwischenschritt zur Nato-Mitgliedschaft Garantien, gegebenenfalls auch mit einem nuklearen Beistand – zur Abschreckung.

Soll die Bundesregierung sich beteiligen?

Von deutscher Seite aus sollte jedenfalls die Kampfjet-Allianz unterstützt werden und die Lieferungen von weitreichenden Systemen, Panzer und mehr Munition zugesagt werden.

Die USA haben angekündigt, Streumunition an die Ukraine zu liefern. Die Bundesregierung zeigt Verständnis. Sind solche international geächteten Waffen im Kriegsgeschehen eingepreist?

Ich wünschte mir dasselbe Maß an Empörung und dieselbe Diskussion, wenn es um Russland geht. Denn Russland setzt diese von Deutschland abgeschaffte Munition tausendfach gegen die ukrainische Zivilbevölkerung ein. Wenn die Ukraine nun Streumunition in Front-Gebieten einsetzt, die ohnehin durch russische Cluster-Munition für lange Zeit unbewohnbar gemacht wurden, in denen es keine Zivilbevölkerung gibt, ist dies wahrscheinlich einer der wenigen Ausnahmen, wo dies legal ist. Daran sieht man, wie fatal es ist, dass wir durch Verzögerung und Blockade bei Waffenlieferungen fast ein Jahr verloren haben. Das hat Russland genutzt und sich tief eingegraben und breite Frontabschnitte vermint. Für uns muss das der klare Appell sein, mehr weitreichende Waffen und Munition zu senden, alles, was wir selbst auch verwenden würden.

Nicht nur Waffen liefern, sondern auch mehr deutsche Sol­da­t:in­nen im Ausland stationieren – so wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) es für Litauen angekündigt hat.

Das war ein wichtiges Signal der Bündnissolidarität auch gegen den Rat vieler aus der Bundeswehr. Pistorius hat sich durchgesetzt gegen die Bedenkenträger. Es geht um die Stationierung ab 2026. Wahrscheinlich müssen dann auch Gelder umpriorisiert werden, denn dafür wird es nicht viele zusätzliche Gelder geben. Aber Litauen steuert auch eine halbe Milliarde Euro bei.

Ist die Ankündigung nicht dennoch eine Provokation für Russland?

Nein! Mit dieser Entscheidung geht auch ein Ruck durch die Bundeswehr. Damit wird deutlich, es sind keine Verteidigungsbeamten im Inland, sondern es sind Soldaten, und zwar Soldaten, die die Sicherheit Deutschlands und des Bündnisses verteidigen. Russland versucht sehr schleichend, den Zusammenhalt der westlichen Staaten zu zerstören, und wir sind hybrides Kriegsziel. Putin darf nicht an unserem politischen Willen zweifeln, dass wir die rumänischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger verteidigen, oder das Baltikum mit seinen rund sechs Millionen Menschen. Die Allianz der Staaten muss ein klares Signal an Putin senden.

Welches?

Nach der Zerstörung des Staudamms gab es keine Reaktion. Aber jetzt droht die Sprengung des Kernkraftwerks Saporischschja. Ein GAU wird offenbar in Kauf genommen. Deswegen müssen wir hier sehr viel klarer reagieren und auch politisch klarmachen: wenn es zur Kernschmelze kommt, dann wird dies genauso behandelt werden, wie der Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe.

Und das bedeutet?

Zum Beispiel Kaliningrad von den russischen Versorgungslinien abzuschneiden. Wir sehen ja, wie Putin reagiert, wenn er unter Druck ist. Wir brauchen weitere Sanktionen und eine klare Benennung, dass bei einer Zerstörung des AKW eine Antwort der Stärke und Entschlossenheit folgen wird.

Welche?

Die exakte Vorgehensweise sollten wir nicht ankündigen, sondern unberechenbarer für Putin werden. Aber wenn sich etwa Rumänien bedroht fühlt, beispielsweise wenn Russland in Moldau vorgeht. Dort leben zu einem Großteil rumänische Staatsbürger. Dann würde das als Angriff auf das Bündnis betrachtet werden können und wäre auch ein Grund für die Anwendung von Artikel fünf. Der US-Senat hat erst kürzlich eine Resolution eingebracht, in der vorgeschlagen wird, Handlungen Russlands als Angriff auf die NATO zu werten, wenn es zu einer radioaktiven Verseuchung des Territoriums der Verbündeten kommt. Es muss sehr klar an Russland kommuniziert werden, dass so etwas Konsequenzen hätte. Wir sehen ja, wie Putin reagiert, wenn er unter Druck ist.

Mit Boris Pistorius haben wir einen SPD-Verteidigungsminister. Seine Vor­gän­ge­r:in­nen aus der CDU haben ihm nicht wirklich eine gute Vorlage hinterlassen.

Das sage ich doch schon die ganze Zeit. Und zweitens war derjenige, der die Hand darauf hatte, der damalige Finanzminister Olaf Scholz. Wir sehen jetzt vor allem eine Zeitenwende in der SPD. Bei aller Selbstkritik muss ich auch sagen, der Union war immer der Regierungsfrieden wichtiger als die Sicherheit, und heute zahlen alle Parteien den Preis dafür, denn das nutzt die AfD schamlos aus.

Aufrüstung kostet. Ebenso wie die Zusage, das Zwei-Prozent-Ziel einzuhalten. Gerechtfertigt in einer angespannten Haushaltslage?

Sicherheit kostet. Wir können nicht einerseits die ganzen Vorteile der internationalen Ordnung haben wollen und dann die Durchsetzung dieser Ordnung nicht unterstützen. Wir können Sicherheitspolitik nicht nach Kassenlage machen. Das haben wir lange genug gemacht, und das geht nicht mehr: Deutschland ist Kriegsziel. Das muss man auch unserer Bevölkerung sagen. Wir müssen unseren Wohlstand neu definieren. Den werden wir nur erhalten, wenn die Länder noch Vertrauen in Deutschland haben und sich nicht Polen oder die baltischen Staaten von uns abwenden, weil sie sagen, die machen nur Lippenbekenntnisse.

Der Verteidigungsetat wird um rund 2,9 Milliarden Euro aufgestockt. Außerdem steht noch ein Großteil des Sondervermögens zur Verfügung. Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe müssen mit Kürzungen klarkommen. Finden Sie das richtig?

Entwicklungszusammenarbeit muss stärker mit den außenpolitischen Interessen koordiniert werden. Es geht eben nicht nur um Softpower, es geht um Smart Power. Es geht um Diplomatie und Härte.

Wie wollen Sie das vermitteln, ohne dass in der Bevölkerung Ängste entstehen?

Wir haben über 700 Abgeordnete. Ich glaube, unsere Pflicht ist es, genau dies zu vermitteln und Orientierung für die Menschen zu bieten. Ich wünsche mir mehr Bereitschaft bei den Abgeordneten, nicht nur in ihren Wahlkreisen Bürgergespräche und Diskussionsrunden zu machen, sondern bundesweit aktiv für eine aufgeklärte Sicherheitspolitik einzutreten.

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