50 Jahre Berliner Drogenhilfe: „Da kommt noch einiges auf uns zu“​

Von der Tinke zum Ecstasy: Der Psychologe Andy Ruf hat am 7.7.1973 Berlins erste Drogenberatungsstelle mitgegründet. Ein Resümee zu 50 Jahren Drogen.

Jugendliche sitzen im Sommer 1973 auf den Stufen der Gedächtniskirche

Jugendliche, damals auch „Gammler“ genannt, im Sommer 1973 an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Foto: Chris Hoffmann/picture-alliance

taz: Herr Ruf, die erste Drogenberatungsstelle Berlins wird heute 50 Jahre alt. Sie waren damals dabei. Wie muss man sich die Anfänge vorstellen?

Andy Ruf: Für uns alle war das absolutes Neuland. Es gab keinerlei Erfahrung im Umgang mit jungen Erwachsenen, die harte Drogen konsumierten, nur das, was man aus den USA gehört hatte.

Die Caritas-Suchtberatung in der Königsberger Straße 11 könne als „die Keimzelle“ der Drogenberatung Berlins angesehen werden, so die katholische Wohlfahrtsorganisation. Am 7. Juli 1973, also vor genau 50 Jahren, wurde die Einrichtung in Berlin-Lichterfelde geöffnet, der Anstoß war aus einem Studentenkreis gekommen. In dem Gebäude befand sich bereits eine Alkoholikerberatungstelle. In jener Zeit wuchs in Berlin eine Drogenszene heran, aber professionelle Hilfe fehlte. Die bestehenden Angebote für Alkoholkranke passten nicht zu den Konsumenten harter Drogen.

Heute gibt es in Berlin ein weitgefächertes Hilfsangebot in allen 12 Bezirken. Allein die Caritas betreibt drei Drogen-Beratungsstellen. Die Einrichtung in Lichterfelde besteht immer noch: Rund 1.000 Betroffene suchen dort jährlich Hilfe. Die Herausforderungen seien aber andere als damals, sagt Leiterin Heike Nagel: Mischkonsum, Spiel- und Medienabhängigkeit, sicherer Konsum sowie Belange des Kinderschutzes.

Wie groß war die Berliner Drogenszene damals?

Ziemlich überschaubar, kein Vergleich zu heute. Mehr oder weniger waren das Studenten und Oberschüler, später auch Lehrlinge. Angefangen hatte das Ende der 60er Jahre mit der Studentenbewegung, der außerparlamentarischen Opposition, Kommune 1. Beeinflusst auch durch die Popmusik, die Hippie-Bewegung, Woodstock. Es gab den Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, es gab Slogans wie: „Haschisch, Opium, Heroin – für ein schwarzes Westberlin“! Es gab Schwerpunkte, wo man sich getroffen hat: Bahnhof Zoo, Café Kranzler am Kudamm und die TU-Mensa. Es gab die Gammler, die wollten damals schon aus der Gesellschaft aussteigen, sie saßen an der Gedächtniskirche und haben Empörung erweckt bei den Berliner Bürgern nach dem Motto: „Geht doch nach drüben.“

Damit war Ostberlin gemeint, das war ja zu Mauerzeiten. Wo kamen die Drogen her?

Die waren von Reisen nach Afghanistan und Indien mitgebracht worden. Am Anfang war der Handel in Berlin mehr oder weniger in Freundschaftskreisen ohne großes Profitdenken. Das hat sich dann verändert, als die sogenannte Berliner Tinke hergestellt wurde.

Was war das?

Das war eine Morphinbase mit Essigsäure gemischt. Damit gab es die ersten Fixer, die sich diese Droge auch gespritzt haben. Anfang der 70er tauchten die ersten organisierten Banden auf. Deutsche und Iraner, Perser, wie man damals sagte, haben den Markt für Heroin erschlossen. Die Berliner Tinke ist damit allmählich verschwunden. Es gab immer Todesfälle. Auch die Berliner Tinke war ja gepanschtes Zeug.

Andy Ruf, 71, ist Diplompsychologe und Psychotherapeut. 1973 hat er während seines Studiums Berlins erste Drogenberatungsstelle mitgegründet. Er hat 45 Jahre in unterschiedlichen Einrichtungen als Berater und Psychotherapeut gearbeitet, seit 2017 ist er im Ruhestand.

Wer kam auf die Idee mit der Drogenberatungsstelle?

Wir waren eine Gruppe von Psychologiestudenten und haben uns neben unserem Studium in diesem Bereich engagiert. Das war spannend, man steckte ja selbst in der Studenten- und Hippie-Bewegung drin.

Haben Sie damals auch selber Drogen genommen?

Alkohol, klar. Das Ganze kam so, dass wir als Studenten 1972 einen, wie soll man das nennen, Einsatz im „Unlimited“ hatten. Das war eine Diskothek, das spätere „Sound“. Im „Unlimited“ hatte es immer wieder wieder Drogen-Razzien der Polizei gegeben. Der Besitzer hatte die Idee, in zwei Nebenräumen der Diskothek eine Beratungsstelle einzurichten für Drogenabhängige und die Besucher. Es gab einen Aushang, wer das freiwillig machen möchte. Da haben wir uns beworben und dann im „Unlimited“ ehrenamtlich Kontaktarbeit gemacht. Das war ein kurzes Intermezzo. Der Laden wurde trotzdem geschlossen, und wir damit auch. Aber damit waren wir mit der Thematik konfrontiert.

Am 7. Juli 1973 wurde dann die erste Berliner Drogenberatungsstelle in Lichterfelde eröffnet. Eine Einrichtung der Caritas, einem Verband der katholischen Kirche, wohlgemerkt.

Ja, das muss man der Kirche hoch anrechnen. In der besagten Einrichtung gab es zuvor schon eine Alkoholberatungsstelle mit einem Berater. Über Studienkollegen hatten wir zu ihm Kontakt. In dieser Zeit sind in Berlin dann noch weitere Projekte entstanden. Ich habe dann mit anderen auch eine therapeutische Wohngemeinschaft, das Drogeninfo, mitgegründet und -aufgebaut. Und auch der Caritasverband hat im Jahr 1973 eine erste therapeutische Wohngemeinschaft gegründet.

Ging es darum, die Leute zu Abstinenz zu bewegen?

Nicht so dogmatisch, aber letztendlich war das schon der Leitgedanke, den Betroffenen den Weg des Ausstiegs zu ermöglichen. Der Abstinenzgedanke hat sich sukzessive entwickelt. Man hat zunächst viel experimentiert in den ersten therapeutischen Gemeinschaften, weil man noch keine Erfahrungen und Regelungen hatte, wie man mit der Thematik am besten umging.

Geht das genauer?

Dass man ein absolut cleanes Ambiente schaffen muss, hat sich erst während der ersten Jahre herauskristallisiert. Am Anfang war noch nicht klar, ob Betreuer, die in der WG in Kontakt mit den Abhängigen sind, Alkohol trinken oder auch mal einen Joint rauchen dürfen. Auch Bewohner, die rückfällig geworden sind, hat man wieder in der WG aufgenommen.

Ein Pfännchen zum Erhitzen von Heroin sowie ein Venenstauer, hygienisch verpackt

Bei der Festveranstaltung zum 50-jährigen Bestehen der Caritas-Suchtberatung zeigt eine Suchttherapeutin Besteck zum Heroinkonsum Foto: Christoph Soeder/dpa

Aber?

Man hat gelernt, dass dieser Abstinenzgedanke – zumindest im therapeutischen Setting – absolut notwendig ist. Es ist einfach so, wenn man abhängig ist: Man leckt Blut, auch wenn ständig über Rückfall geredet wird. Das hat leider den Effekt bei Süchtigen, dass sie dann selber wieder scharf drauf werden: Ach, dann gönne ich mir auch mal einen Rückfall. Es ging darum, die Gruppe zu stärken, und deshalb gab es dann auch die harten Entscheidungen.

Wer Drogen nimmt, fliegt aus der WG?

Richtig.

Wie lange war Heroin in Berlin die dominierende Droge?

1972 gab es den ersten Bandenkrieg zwischen Iranern und Deutschen in der Bleibtreustraße mit einem Toten. Der Markt wurde aufgeteilt. Heroin war bis in die 80er vorherrschend. Dann kamen vorrangig Amphetamine, Kokain. Mit den ursprünglichen Heroinabhängigen, den Junkies, hatte das aber nicht wirklich was zu tun.

Wer war da die Zielgruppe?

Amphetamine und Kokain sind Leistungsdrogen für ein ganz anderes Klientel, sie gelten als Stimulantien für erfolgreiche Menschen. Diese Drogen haben sich in der Gesellschaft inzwischen etabliert. Mit dem Fall der Mauer kamen auch junge Erwachsene, die nicht diese Drogenerfahrung, aber mit Alkohol zu tun hatten. Über die Alkoholproblematik kam es dann auch zu dem Komasaufen der Jugendlichen. Dann trat immer häufiger Mischkonsum auf. Es wurde eigentlich alles konsumiert nach dem Motto: Hauptsache, es knallt. Und in den letzten Jahren wurden immer mehr Ecstasy und Designerdrogen konsumiert. Ich denke, da wird noch einiges auf uns zukommen.

Es gab kürzlich drei Todesfälle durch Ecstasy, Sorte „Blue Punisher“. Hat Sie das überrascht?

Bei Drogen weiß man eigentlich nie, wie stark sie sind. Man weiß nie, was drin ist. Das war früher bei den Halluzinogenen auch so. Die gab es auf Löschpapier oder sonst wie. Für den einen ist die Dosis okay, bei anderen wirkt sie gar nicht, oder sie hat vielleicht die doppelte Wirkung. Bei Drogenkonsum gab und gibt es deshalb immer wieder Todesfälle.

In Berlin gibt es jetzt endlich die Möglichkeit zum Drug-Checking. Das vom Senat finanzierte Projekt für Drogentests war politisch hart erkämpft worden. Was halten Sie davon?

Das ist ein sinnvolles Angebot, um die Konsumenten aufzuklären, was der Inhalt ihrer erworbenen Substanzen ist, wie stark die Dosis ist. Das Angebot kann dazu beitragen, dass es zu weniger Überdosierungen und Todesfällen kommt.

Es ist vermutlich kein Zufall, dass wir überhaupt noch nicht über Cannabis gesprochen haben. Nach wie vor gibt es Leute, die werfen Cannabis mit harten Drogen in einen Topf. Im Sinne von: Es handele sich um eine gefährliche Einstiegsdroge. Wie sehen Sie das?

Diesen Standpunkt habe ich nie vertreten. Ich sehe in der Liberalisierung den richtigen Weg. Man muss aber Prävention und Aufklärung betreiben und unterscheiden: Wer konsumiert die Droge? Auf jeden Fall sollten keine Kinder und Jugendlichen Cannabis konsumieren, denn das ist für ihre körperliche und geistige Entwicklung nicht förderlich. Aber für Erwachsene? Cannabis hat sich doch in der Gesellschaft letztendlich etabliert. Jemanden zu kriminalisieren, weil er einen Joint raucht oder eine Pflanze auf dem Balkon hat, halte ich nicht für richtig.

Wenn Sie Fazit ziehen nach rund 50 Jahren Drogenarbeit: Wie gut ist die Projektlandschaft in Berlin heute aufgestellt?

Wir haben inzwischen einen sehr professionellen Umgang mit der Problematik, es gibt genügend Einrichtungen und Hilfsangebote, auch unterschiedlicher Art. Die Vielfalt der ersten 10, 20 Jahre hat durch die Umstellung der Finanzierung, vom Berliner Senat auf die Rentenversicherungsträger, zwar ein wenig gelitten …

... die Rentenversicherungsträger finanzieren die Drogentherapie.

Einige Einrichtungen, die die Standards nicht erfüllen konnten oder wollten, sind aus der Finanzierung rausgefallen und mussten schließen. Aber grundsätzlich ist nach 50 Jahren in Deutschland ein gutes Hilfesystem in Berlin entstanden, das Begleitung, Therapie und Nachsorge sowie Angebote zur Arbeit und Ausbildung für die Betroffenen vorhält. Auch ambulante Therapie wird jetzt finanziert und steht den Klienten zur Verfügung. Also da ist schon eine Menge passiert.

Jede Droge hat ihre Zeit?

Das ist so. Mein Eindruck ist allerdings, dass es immer mehr unterschiedliche Drogen gibt, die angeboten werden. Mit Drogen lässt sich auf der Welt sehr viel Geld verdienen. Die Gewinnspannen beim Drogenhandel sind immens, die Herstellung der Substanzen ist kostengünstig, das betrifft auch gerade die chemischen Drogen.

Wie hat der Umgang mit Abhängigen Ihr eigenes Verhältnis zu Suchtmitteln geprägt?

Ich rauche und trinke ab und an etwas, aber versuche mich gesundheitsbewusst zu verhalten, und gut ist.

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