Sommerdebatten von Freibad bis Löwin: In Berlin hat das Sommerloch Zähne

In der Hauptstadt trägt man immer etwas dicker auf: Aus Freibadschlägereien wird eine nationale Debatte und aus einer Wildsau schnell eine Raubkatze.

Eine Person hält bei einer Pressekonferenz ein Bild hoch.

Doch keine Löwin? Tierartenvergleich bei einer Pressekonferenz Foto: Paul Zinken/dpa

Warum wir in Berlin immer so übertreiben müssten, fragte mich eine Freundin aus Süddeutschland per Mail. Sie schickte ein augenrollendes Emoji hinterher, dazu einen Artikel über die Gewalt in Berliner Freibädern mit dem sehr dick aufgetragenen Titel: „Der Sozialstaat wird am Sprungturm verteidigt!“ Sie hat recht.

In Berlin gibt es nicht einfach halbstarke Idioten, die sich an der Rutsche schlagen, andere Badende belästigen und Bademeister angreifen (wobei ich jetzt nicht sagen will, dass diese Gewalt kein Problem darstellt) – nein, es gibt „die Freibaddebatte“. Genau wie es ein paar Monate zuvor „die Silvesterdebatte“ gab. Und weil es schließlich um die Hauptstadt geht, die für den Rest der Republik eine prima Projektionsfläche bietet, diskutiert das ganze Land munter mit. Toxische Männlichkeit! Inte­gra­tions­probleme! Warum gibt es so was nicht in Hamburg beziehungsweise „in meiner Kindheit“?

Flugs bildeten sich dieselben Reiz-Reaktions-Muster wie immer: Erst hauen Politiker schlecht durchdachte Law-and-Order-Vorschläge raus. Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte eine Aburteilung von Tätern noch am selben Tag. Auch am Wochenende! Der Deutsche Richterbund konterte ebenso vorhersehbar: sehr witzig – und mit welchem Personal? SPD und Grüne warfen dem Konservativen überraschenderweise Populismus vor.

Mich macht das alles müde. Das Geraune über Berlins „massive“ Integrationsprobleme. Die erstaunlich autoritären Vorschläge auch aus linken Kreisen, wonach man etwa alle männlichen Wesen ab 13 aus den Freibädern aussperren sollte. Oder die Idee, mit genügend So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen am Beckenrand würden die Probleme verschwinden. Noch müder machen die wenigen Zahlen zur Debatte: Der Berliner Senat antwortete auf eine besorge Parlamentarische Anfrage der AfD, dass es im Vor-Corona-Jahr 2019 in den rund zwei Dutzend Berliner Freibädern 71 registrierte Gewaltdelikte gab, 2022 waren es 57. Ein Rückgang also? Zzz.

Pardon, ich bin kurz eingenickt. Einer amtsärztlichen Empfehlung folgend, habe ich zur Entspannung ein kleines Hitze-Nickerchen gemacht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund empfiehlt das auch während der Arbeitszeit. Dazu ein kühles Getränk und „gelockerte Kleiderordnung“ – Freibadgefühl während der Arbeit sozusagen. Herrlich! Füße in der Wasserschüssel, Wassermelönchen in Griffweite, die Mittagspause großzügig verlängert …

Wuchernde Siesta-Fantasien

Natürlich ist der Verband der Familienunternehmer gegen so viel Schlendrian. Wir sind ja hier nicht in Mexiko, sondern im Mutterland der eifrigen Produk­tivitäts­impe­rative: Vorsprung durch Technik! Freude am Fahren! Auf diese Steine können Sie bauen! Offenbar hat man in der deutschen Wirtschaft Angst, das Image des effizienten Standorts zu schädigen. Die Vorsitzende des Familienunternehmerverbands, Marie-Christine Ostermann, bremste die in der Sommerhitze wuchernden Siesta-Fantasien jedenfalls ganz humorlos mit dem Appell aus, im Sommer doch einfach früher mit dem Arbeiten zu beginnen: „Früher Vogel fängt den kühlsten Wurm“, riet die im Lebensmittelgroßhandel tätige Westfälin auf Spiegel Online.

Für zusätzliche Abkühlung sorgte ­neben der Einführung der Ausweispflicht in Berliner Freibädern am Donnerstag ein Temperaturrückgang. Und die Sichtung einer angeblichen Löwin, die im Berliner Süden frei herumlaufen soll. Große Aufregung! Sofort machten die Freibaddebatte und die Nickerchen-Debatte der Löwen-Debatte Platz. Hat eine Löwin wirklich solche Ohren? Darf ich jetzt noch mit dem Dackel Gassi gehen? Und wohnt in der Nähe der gesichteten Raubkatze nicht ein bundesweit bekannter Clan, der auf einer Hochzeit mal ein Tigerbaby präsentierte?

In unserer Nachbarschaft konnte ich zum Glück bislang nur die Sichtung eines Fuchses vermelden, der zutraulich mitten im Garten stand, während ihm der Schwanz einer frisch getöteten Ratte aus dem Maul baumelte. Ich schrieb meiner süddeutschen Freundin: „Siehst du, wir haben es schon wieder getan: Bei uns in Berlin hat das Sommerloch sogar Zähne!“

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Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.

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