NS-Widerstand der „Roten Kapelle“: Hingerichtet in Plötzensee

Mit Klebezetteln kämpfte Liane Berkowitz gegen das NS-Regime. Vor 80 Jahren wurde sie kurz vor ihrem 20. Geburtstag in einer Berliner Haftanstalt hingerichtet.

Liane Berkowitz um 1942

Liane Berkowitz klebte kleine Zettel mit: „Das Nazi-Paradies – Krieg Hunger Lüge Gestapo – Wie lange noch?“ Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

BERLIN taz | „Wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben. Mir scheint manchmal alles nur wie ein schlechter Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen muss. Leider ist es die rauhe Wirklichkeit.“ Diese Zeilen schreibt die 19-jährige Liane Berkowitz am 28. Februar 1943 aus der Haftanstalt Plötzensee an ihre Mutter. Das NS-Reichskriegsgericht hat die hochschwangere junge Frau gerade wegen „Beihilfe zur Vorbereitung des Hochverrats“ zum Tode verurteilt.

Am 5. August 1943, zwei Tage vor ihrem 20. Geburtstag, wird Liane Berkowitz in der Haftanstalt Plötzensee mit dem Fallbeil geköpft. Die Prozedur dauert gerade mal wenige Sekunden. Weitere zwölf Frauen und zwei Männer sterben an diesem Abend. Während der NS-Zeit wurden in Plötzensee fast 2.900 Menschen hingerichtet. Nur wenige Tage, bevor die Rote Armee am 25. April 1945 das Gefängnis befreite, wurden noch Todesurteile vollstreckt. Der Hinrichtungsraum ist heute Teil einer kleinen Gedenkstätte – neben der Justizvollzugsanstalt, die noch immer in Betrieb ist.

Die Namen Am 7. August wäre Liane Berkowitz 100 Jahre alt geworden, am 5. August jährt sich ihre Hinrichtung zum 80. Mal. Zusammen mit ihr wurden an jenem Abend in Plötzensee zwölf weitere Frauen und zwei Männer enthauptet: Frida und Stanislaus Wesolek, Emil Hübner, Adam Kuckhoff, Ursula Goetze, Maria Terwiel, Oda Schottmüller, Rose Schlösinger, Hilde Coppi, Klara Schabbel, Else Imme, Eva-Maria Buch, Annie Krauss, Ingeborg Kummerow und Cato Bontjes van Beek.

Die Erinnerung Über die 13 hingerichteten Frauen hält Johannes Tuchel am 3. August einen Vortrag in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Die Anzahl der Teilnehmenden ist begrenzt, die Veranstaltung wird aber gestreamt unter: www.gdw-berlin.de/livestream. Am 6. August leitet Pfarrer Michael Maillard einen Stadtspaziergang zu den „Lebensorten von Liane Berkowitz“. Am 7. August ist ein Abend zum Gedenken an die Schü­le­r*in­nen der Heilschen Abendschule geplant, die Opfer der NS-Terrorjustiz wurden. Der Abend mit Lesungen, Musik und der Einweihung einer Erinnerungswand findet im Restaurant Feinberg’s in der Fuggerstraße 35 statt, wo sich einst die Heilsche Abendschule befand. Diese beiden Veranstaltungen kosten Eintritt und benötigen eine Anmeldung unter: kontakt@gedenkzentrum.de.

In Charlottenburg-Nord hat die Stadt in den 1960er Jahren die Paul-Hertz-Siedlung errichtet und fast alle Straßen, Plätze und Schulen nach Geg­ne­r*in­nen des NS-Regimes benannt. Von der Gedenkstätte Plötzensee führt ein markierter Weg zunächst an der hohen, mit Stacheldraht gesicherten Gefängnismauer vorbei durch ein Kleingartengebiet den Heckerdamm entlang. Dieser „Pfad der Erinnerung“ ist mit zehn Stelen gesäumt. Sie weisen auf Widerstandskämpfer*innen, ehemalige Baracken von Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen und christliche Gedenkstätten hin.

An Stele sechs liegt das Evangelische Gemeindezentrum. Dieser schlichte, dunkelgraue Komplex beherbergt auch das Ökumenische Gedenkzentrum für die Opfer von Plötzensee. Hier wartet Pfarrer Michael Maillard, ein weißhaariger, gutmütig wirkender Mann. Er hat in akribischer Kleinarbeit die Ausstellung „Lebensorte von Lanka und Remus“ erstellt, die an Liane „Lanka“ Berkowitz und ihren Verlobten Friedrich „Remus“ Rehmer erinnert.

Das Gedenken verstetigen

Neben Infotafeln und Veranstaltungen gibt es einen nachgebauten Lernraum der Abendschule, an der sich Berkowitz und Rehmer auf das Abitur vorbereiteten, sowie eine Sitzecke, die den Freizeitaktivitäten der „bündischen Jugend“ nachempfunden ist. „Mir ist wichtig, das Schicksal der beiden jungen Leute in den Fokus zu rücken“, sagt der 65-jährige Maillard. Er will das Gedenken verstetigen.

Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Professor Johannes Tuchel, ist Mitte der 1980er Jahre auf das Schicksal von Berkowitz aufmerksam geworden, es hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Über Berkowitz, Rehmer und die Widerstandsaktionen der Berliner Roten Kapelle hat er 2022 das Buch „…wenn man bedenkt, wie jung wir sind…“ veröffentlicht.

Friedrich Rehmer im Februar 1939 in Berlin

Im November 1942 verhaftet, im Mai 1943 als Mitglied der „Roten Kapelle“ hingerichtet: Friedrich Rehmer Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Anfang Juli stellte er es als Teil der Veranstaltungsreihe im Gemeindehaus vor. „Wie konnte es dazu kommen, dass das Reichskriegsgericht eine schwangere 19-Jährige wegen ein paar Klebezetteln hinrichten ließ?“, beginnt er seinen Vortrag. Und erzählt ihre Geschichte.

Liane Berkowitz wird am 7. August 1923 geboren, ihre Mutter ist die Opernsängerin und Gesangslehrerin Katharina Wassiljewa, die im selben Jahr mit ihrem damaligen Ehemann aus der Sowjetunion nach Berlin geflohen ist. Ab 1941 bereitet sich Berkowitz an der Heilschen Abendschule in Schöneberg auf das Abitur vor. Hier herrscht ein aufgeschlossenes und liberales Klima, ein Freundeskreis von Schü­le­r*in­nen und Intellektuellen findet sich, die der NS-Herrschaft kritisch gegenüberstehen.

Berkowitz war jung, aktionistisch und freiheitsliebend

Spätestens in der Abendschule lernt Berkowitz auch ihren Freund und späteren Verlobten Friedrich Rehmer kennen. Dieser Freundeskreis trifft sich ab Ende 1941 mit anderen, oppositionell eingestellten Gruppen und Gesprächszirkeln, unter anderem auch mit Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, und beginnt, sich an unterschiedlichen Aktionen des Widerstands zu beteiligen.

„Liane Berkowitz war an allen Vorgängen in der UdSSR sehr interessiert, da dies ein Teil ihrer Herkunft war“, schreibt Tuchel in seinem Buch. „Sie wandte sich mehrfach gegen die in der NS-Propaganda zu findende pauschale Verurteilung, die Russland mit der ‚bolschewistischen Sowjetunion‘ gleichsetzte.“ Zudem war Berkowitz jung, aktionistisch und freiheitsliebend.

Als im Mai 1942 in Berlin die antikommunistische Propaganda-Ausstellung „Das Sowjetparadies“ eröffnet wird, nehmen etwa 20 Personen aus diesem Kreis an einer mutigen, aber riskanten Aktion teil: In der Nacht zum 18. Mai 1942 verkleben sie Hunderte kleine Zettel mit der Aufschrift: „Ständige Ausstellung – Das Nazi-Paradies – Krieg Hunger Lüge Gestapo – Wie lange noch?“

Wegen dieser und anderer Aktionen bildet das Reichssicherheitshauptamt die „Sonderkommission Rote Kapelle“. Ab Sommer 1942 gelingt es der Gestapo, die Berliner Widerstandskreise aufzudecken. Bis Ende des Jahres werden über 100 Menschen verhaftet.

Anklage und Verurteilung vor dem Reichskriegsgericht

Da Schulze-Boysen der Luftwaffe angehört und sowohl er als auch Harnack bereits vor 1941 versuchen, die Sowjetunion vor dem bevorstehenden Angriffskrieg zu warnen, werden die Inhaftierten vor dem Reichskriegsgericht angeklagt. Im September 1942 wird auch die im dritten Monat schwangere Liane Berkowitz verhaftet und am 18. Januar 1943 zum Tode verurteilt. Im Gefängnis bringt sie eine Tochter zur Welt. Der Vater ist Friedrich Rehmer.

Rehmer wird 1921 in Berlin geboren und besucht von 1938 bis 1940 das Heilsche Abendgymnasium in Schöneberg. Er ist ebenfalls freiheitsliebend, steht der verbotenen Bündischen Jugend nahe und teilt mit Freun­d*in­nen eine Vorliebe für Musik, Literatur und Reisen. Tuchel hält es für plausibel, dass Rehmer „in einer nihilistisch-individualistischen Perspektive ein Gegenbild zur nationalsozialistischen Vereinnahmung“ sah.

1941 wird Rehmer zur Wehrmacht eingezogen, kehrt mit einer schweren Beinverletzung nach Berlin zurück und ist 1942 in einem Lazarett in Berlin-Britz stationiert. „Hitler wird diesen Krieg verlieren, und mit ihm geht das Dritte Reich unter“, soll er gesagt haben. Im November 1942 wird er verhaftet und ebenfalls als Mitglied des Konstrukts Rote Kapelle vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt. Am 13. Mai 1943 wird er in Plötzensee hingerichtet.

Die „Rote Kapelle“ war weder „rot“ noch eine „Kapelle“, wie man beim Vortrag erfährt. Mit dem Verfolgungskomplex Rote Kapelle fasste die Gestapo unterschiedliche Widerstandsnetzwerke in Deutschland, Belgien und Frankreich zusammen. Mit dem Begriff wollte das Reichssicherheitshauptamt suggerieren, dass es eine große kommunistische Widerstandsgruppe gab, die Nachrichten an den „Feind“ schickte, was aber nur auf einen kleinen Teil zutrifft.

Mehrere Schü­le­r*in­nen zum Tode verurteilt

In den Berliner Widerstandskreisen fanden sich unterschiedliche Weltanschauungen und Milieus. Sie lehnten den Krieg ab und versuchten, mit Flugblättern und Denkschriften eine Gegenöffentlichkeit herzustellen.

Obwohl die Klebezettelaktion vom Mai 1942 keine allzu großen Auswirkungen hat, sorgt sie für große Unruhe in der NS-Führung und wird drastisch bestraft. Chefankläger vor dem Reichskriegsgericht ist Manfred Roeder, der aufgrund seines Ehrgeizes als „Bluthund Hitlers“ gilt. Mehr als 50 Mitglieder der „Roten Kapelle“, darunter mehrere Schü­le­r*in­nen der Abendschule, werden zum Tode verurteilt und in Plötzensee ermordet.

Liane Berkowitz ist eine der jüngsten. In der Haft wird ihre Tochter Irina geboren. Wohl auch deswegen befürworten sowohl Ankläger Roeder als auch der Richter Alexander Kraell ihr Gnadengesuch zur Umwandlung in eine Haftstrafe. Doch Adolf Hitler persönlich lehnt das Gnadengesuch ab.

„Keiner der Beteiligten ist zur Verantwortung gezogen worden“

Berkowitz kann nun lediglich Besuch von Geistlichen empfangen und sucht Trost im christlichen Glauben. Aus der Todeszelle übergibt sie ihre Tochter Irina an ihre Mutter Katharina Wassiljewa. Am 5. August 1943, dem Tag ihrer Hinrichtung, schreibt sie an ihre Mutter: „Es ist aus. Heute, wenn es dunkel geworden sein wird, lebt deine Lanka nicht mehr.“ Zwei Monate später stirbt auch die kleine Irina unter ungeklärten Umständen in einem Krankenhaus.

„Keiner der Beteiligten ist zur Verantwortung gezogen worden“, beendet Tuchel seinen engagierten Vortrag. Das ehemalige Reichskriegsgericht in der Berliner Witzlebenstraße, wo allein gegen Angehörige der Roten Kapelle 45 Todesurteile verhängt worden sind, wurde Mitte der 2000er Jahre in Luxuswohnungen umgebaut.

Während der ehemalige Generalrichter Manfred Roeder nach dem Krieg bis zu seinem Tod 1971 unbehelligt blieb und eine stattliche Pension erhielt, musste Katharina Wassiljewa mit den westdeutschen Behörden um eine geringe Entschädigung kämpfen. Nach dem Tod ihrer Tochter und ihrer Enkelin war sie eine gebrochene Frau. Sie starb 1959 in West-Berlin und wurde auf dem Russisch-Orthodoxen Friedhof in Berlin-Tegel begraben.

Ihr Grabstein ist auch ein Gedenkstein für Liane Berkowitz. Zudem erinnern eine Gedenktafel am Viktoria-Luise-Platz 1 und ein kleiner Platz in Friedenau an sie. An Fritz Rehmer erinnert seit 2022 ein Stolperstein in der Harzer Straße 33.

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