zwischen den rillen
: Engel, Madonna, Transzendenz

Christine & the Queens: „Paranoia, Angels, True Love“ (Because Music/Virgin)

Verluste haben den Stein ins Rollen gebracht: das Ende einer Beziehung, der Tod der eigenen Mutter. All diese einschneidenden Erfahrungen haben verständlicherweise etwas mit dem französischen Popstar Christine and the Queens gemacht – menschlich, aber auch künstlerisch. „Meine Trauer hat mich verändert“, bekennt der nichtbinäre Musiker. „Ich bin spiritueller geworden, ich glaube an etwas Größeres.“ Daraus hat sich ein ziemlich komplexes Album namens „Paranoia, Angels, True Love“ entwickelt.

Chris, geboren 1988 als Héloise Letissier in Nantes, will es im Interview in Berlin als Triptychon verstanden wissen. Es setzt quasi den Vorgänger „Redcar les adorables étoiles“ fort.

Entstanden ist so Musik, für die man sich wirklich Zeit nehmen sollte. Schließlich kurven die Hö­re­r:in­nen mit Christine and the Queens durch 20 Songs. Um dieses Pensum zu wuppen, hat sich der Popstar Hilfe geholt. Er selbst sitzt am Steuer, neben ihm auf dem Kopilotenplatz: US-Produzent Mike Dean. In Los Angeles tüftelte das Duo an den neuen Stücken. Dabei stand von vornherein fest: Es sollte bei jedem Lied nur eine einzige Gesangsaufnahme geben.

Vieles überließ Chris einfach dem Zufall, inspiriert von traditioneller Rockmusik: „Ähnlich einem Led-Zeppelin-Song wollte ich intuitiv agieren. Aus meinem Unterbewusstsein.“ Songs, doziert der 35-Jährige, seien wie Mantras: „Sie können in Momenten auftauchen, in denen ich mich verletzt und entwaffnet fühle.“ So wie das mit entrückt pluckernden Synthesizern angereicherte „I Feel Like an Angel“. Laut Chris handelt es vom Schmerz der Engel: „Sie sind Kreaturen der Zwischenwelt, die sich nach etwas sehnen. Nach dem Himmel oder nach etwas anderem.“ Wenn Chris sich in seinem Lied in solchen Reflexionen verliert, klingt er selber wie ein Engel. Sein Gesang erinnert definitiv an Kate Bush.

Die britische Popikone ist nicht der einzige Referenzpunkt. Ausgefeilt gibt sich „Tears can be so soft“. Der Song nimmt eine überraschende Wendung zum Triphop à la Portishead. In der Musik ist ein Sample von Marvin Gayes Song „Feel my Love inside“ mit einem atonalen Motiv vereinigt. Dank der Zeilen „I miss my mother / Miss my mother / Miss my mother at night / Oh / She gave me life“ berührt der Text. Er widmet sich der kathartischen Wirkung von Tränen: „Wer weint, öffnet sich und lässt etwas heraus.“ Drastischer fällt das Stück „True Love“ aus. In Zeilen wie „Angel of light / Take me higher / Make me forget my mother“ bricht pure Verzweiflung aus der Vortragenden heraus: „Wenn man leidet, will man manchmal bloß seinen Gedanken entfliehen oder sogar sterben. Natürlich werde ich meine Mutter nicht vergessen – niemals!“ Musikalisch stoßen Beats im Takt eines Herzschlags auf eine immer eindringlicher werdende Basslinie. Als Gästin gesellt sich die US-Rapperin 070 Shake dazu. Mit ihr liefert Christine and the Queens beim erotisch aufgeladenen Song „Let me touch you once“ eine nahezu orgiastische Völkerverständigung auf dem Dancefloor.

Als weiteren Gast fährt Chris Superstar Madonna auf. „Für sie habe ich einen dystopischen Charakter namens Big Eye erschaffen“, erzählt er. „Man weiß nicht genau, wer diese Figur ist. Könnte ein Engel sein, vielleicht auch die Stimme der Wahrheit oder ein Computer.“ Auf jeden Fall fand Christine Kollegin Madonna für diese Rolle perfekt. Darum holte er sie nicht etwa als Sängerin an Bord, sondern als Schauspielerin.

In den Songs „Angels Crying in My Bed“, „I Met an Angel“ und „Lick the Lights Out“ spricht sie ihren jeweiligen Part. Dabei scheint sie zuweilen mit der Seele von Chris’ verstorbener Mutter zu verschmelzen. Gemeinsam im Studio waren die beiden zwar nicht, allerdings hat Madonna wenig später Chris zu sich nach Hause eingeladen. Diese Begegnung hinterließ ein paar unvergessliche Impressionen. Madonna, schwärmt er, sei eine starke Frau. Trotz ihres Popstar-Daseins habe er sie als eine selbstkritische Bürgerin kennengelernt: „Wir haben uns zum Beispiel über die zerstörerische Macht der Kirche unterhalten.“

Auch Chris tut sich mit dieser Institution schwer und bezeichnet sich als spirituell, nicht als religiös: „Ich glaube an das Unsichtbare, an Transzendenz, an Multidimensionalität.“ Das spiegelt auch die Musik des Albums „Paranoia, Angels, True Love“ wider – mal hintergründig, mal direkt. Wie das klingt? Alles außer Easy Listening. Oft driften die Texte ins Philosophische ab, die Musik strebt zwangsläufig eher in Richtung Düsternis und geht unter die Haut.

Dagmar Leischow