DIE STIMMEN DER ANDEREN
:

■ Neue Zürcher Zeitung (Schweiz)

Deutschlands spätes Gewissen

Nach Jahren des Wegsehens und der routinierten Abwiegelung hat Deutschland die Ukraine als politischen Skandal entdeckt. Die nahende Fußball-Europameisterschaft und der skandalöse Umgang des Regimes von Präsident Janukowitsch mit der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko haben die politische Klasse plötzlich ihr so lange Zeit friedlich schlummerndes Menschenrechtsgewissen finden lassen, und vereint setzen Regierung und Opposition die Machthaber in Kiew unter Druck. Seit bekannt wurde, dass Timoschenko im Gefängnis malträtiert wurde, hagelt es förmlich Proteste und Boykottdrohungen. […] Dass es die „orangen“ Politiker um Timoschenko und den damaligen Präsidenten Juschtschenko mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch nicht sonderlich genau nahmen und dass Timoschenko von ihrer Gefängniszelle aus den Skandal orchestriert (was ihr gewiss nicht zu verargen ist) – es scheint niemanden in Deutschland zu kümmern.

■ Lidove Noviny (Tschechien)

Anstand der Staatsmänner

Der Vorwurf der ukrainischen Regierung, Deutschland wolle den Kalten Krieg wiederbeleben, ist falsch. Boykotte wie in den Jahren 1976, 1980 und 1984, als die Olympischen Spiele gestört wurden, gibt es heute nicht mehr. Niemand hindert die Sportler daran, in der Ukraine unter der Flagge ihrer nationalen Teams zu kämpfen. Stattdessen setzt sich heute unter den Staatsmännern eine Art allgemeiner Anstand durch. So wie jüngst bei den Spielen in Peking. Die Sportler haben ohne Sperren an ihr teilgenommen, aber die Politiker einiger westlicher Länder– darunter Tschechien und Deutschland – sind der offiziellen Eröffnung ferngeblieben. Lediglich ein solcher Boykott droht der Ukraine.

■ Rzeczpospolita (Polen)

Siemens-Verträge – schon vergessen?

Warum interessiert man sich erst so spät für ihr Schicksal? Frau Timoschenko ist nicht seit gestern im Gefängnis. Vielleicht hätte man schon Alarm schlagen sollen, als Siemens und andere deutsche Firmen ihre Verträge zur Vorbereitung der Fußball-EM unterzeichneten? Oder als dieselbe Firma Siemens vor einigen Jahren half, Peking für die Olympischen Sommerspiele im Land der politischen Häftlinge umzubauen? Auch das ist ein Land mit politischen Häftlingen. Es mag zynisch klingen, doch hat es in der Sportgeschichte schon weitaus schlimmere Gastgeber für Olympische Spiele oder Meisterschaften gegeben. So haben Mussolini, Hitler, die argentinische Junta [Fußball-WM 1978] oder eben die Kommunistische Partei Chinas solche Veranstaltungen organisiert.

■ Eesti Päevaleht (Estland)

Kein Beifall für Janukowitsch

Im Fall der EM in der Ukraine sind Politik und Sport tatsächlich eng miteinander verbunden. Das Sportereignis war nämlich als Imageprojekt gedacht. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass der Beginn der Vorbereitungen in die Amtszeit von Politikern wie Julia Timoschenko fiel, die nun in Haft sitzt. Der politische Boykott der Spiele ist eine kluge Entscheidung, denn eine Beifall klatschende europäische Führungselite hätte Präsident Janukowitsch in die Hände gespielt.

■ Financial Times Deutschland

Für die Großen das gleiche Maß

Die Ukraine ist ein autokratisches System, das die Freiheit der Bürger beschneidet. Die Pressefreiheit wurde nach der Orangen Revolution 2004, als das Land kurzzeitig aufatmete, Schritt für Schritt wieder zurückgestutzt. Das Gleiche gilt auch für die Demonstrationsfreiheit. […] Insofern ist es gut, der ukrainischen Führung im Falle der inhaftierten Julia Timoschenko Druck zu machen – und dem Präsidenten Plattformen zur politischen Inszenierung zu nehmen. […] Was aber für die Ukraine gilt, muss künftig auch für die waschechte Diktatur Weißrussland gelten, die die Eishockey-Weltmeisterschaft ausrichtet. Oder für Bahrain, das Oppositionelle im Gefängnis verschwinden lässt, sich aber Aufmerksamkeit und Einnahmen durch Formel-1-Rennen sichert. Ja, auch Russland, das die Olympischen Winterspiele in Sotschi veranstaltet, ist alles andere als eine lupenreine Demokratie. Wer glaubhafte Menschenrechtspolitik betreiben will, darf sich künftig auch vor den Großen nicht scheuen.

Quelle: eurotopics, taz