ExpertInnen über Inklusion: „Warum soll das nicht gehen?“

Erneut wird die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geprüft. Leander Palleit und Britta Schlegel vom Deutschen Institut für Menschenrechte üben Kritik.

Jubelnde Sportfans auf einer Tribüne

Wenn es schon mal Grund zum Jubeln gibt: Fans bei den Special Olympics World Games 2023 in Berlin Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

wochentaz: Frau Schlegel, Herr Palleit, werden die Rechte eines Kindes, das heute mit einer Behinderung geboren wird, besser gewahrt als vor 15 Jahren?

Leander Palleit: Ganz pauschal ja, aber der Unterschied ist relativ gering. Es passiert durchaus, dass Kinder, die heute mit Behinderung geboren werden, die gleichen schlechten Erfahrungen machen wie vor 15 Jahren.

Britta Schlegel ist Soziologin und leitet die deutsche Monitoring­stelle für die Umsetzung der UN-Behinder­tenrechts­konvention.

Was ist dann aus dem großen Paradigmenwechsel geworden, den die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention einläuten sollte?

Palleit: Bis 2016 ist relativ viel passiert und danach relativ wenig. Der Begriff Inklusion taucht zwar überall auf – inklusive Gesellschaft, inklusiver Sport. Aber wenn man genau hinsieht, dann steckt da oft wenig Inklusion drin. Ein Wandel in der Rhetorik reicht nicht.

Leander Palleit ist Jurist und leitet mit Britta Schlegel die Monitoring­stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte.

Diese Konvention ist rechtlich bindend. Wieso sitzen wir überhaupt hier, 14 Jahre nach Inkrafttreten, und sagen, dass es mit der Umsetzung gewaltig hapert?

Palleit: Weil es erst ein paar Jahre gedauert hat, bis sich überhaupt rumgesprochen hatte, dass sie bindend ist, und zwar komplett und auch für die Länder und die Kommunen. Als es sich dann rumgesprochen hatte, kam die Zeit der großen Abers: Wir haben die Ressourcen nicht, wir brauchen noch Zeit, da hängen so viele Sachen dran.

Britta Schlegel: Am schlimmsten ist, wenn die Konvention als solche infrage gestellt wird. Personen, die keine Men­schen­rechts­ex­pert*in­nen sind, nehmen sich heraus, die Konvention umzuinterpretieren. Dann ist das Förderschulsystem plötzlich bereits ein inklusives System, weil die Kinder dort ja überhaupt beschult werden.

Sowohl von Eltern als auch von Leh­re­r*in­nen kommt immer wieder das Argument, die Bedingungen an den Förderschulen in Deutschland seien für bestimmte Kinder geeigneter.

Schlegel: Fakt ist, dass diese Eltern im Moment nur ein Scheinwahlrecht haben. In den meisten Fällen, vor allem im ländlichen Raum, gibt es überhaupt keine wohnortnahen inklusiven Regelschulen. Dazu kommt, dass die Kinder in die Förderschulen mit dem Fahrdienst gebracht werden und die Therapien in der Schule stattfinden. Bei einem Regelschulbesuch müssen Eltern das alles in der Regel selbst organisieren. Was ist das für ein Wahlrecht? Und selbst in den sogenannten inklusiven Schulen ist es noch viel zu oft so, dass bei Pro­ble­men die Kinder infrage gestellt werden: zu laut, zu schwierig, eine Zumutung für die Klasse. Das Kind passt dann nicht. Obwohl es in Wirklichkeit Aufgabe der Schule ist, zum Kind zu passen.

Das ist im Grunde doch eine Katze-Schwanz-Diskussion: Solange wir keine inklusive Gesellschaft haben, brauchen wir Schutzräume wie Förderschulen, Wohnstätten, Werkstätten. Aber solange wir diese Sondersysteme aufrechterhalten, kriegen wir keine inklusive Gesellschaft …

Palleit: Diesen Teufelskreis haben wir unter anderem, weil Strukturveränderungen wie gemeinsamer Unterricht unter schlechten Voraussetzungen umgesetzt werden. Mit diesen schlechten Erfahrungen im Rücken wird dann der bisherige Zustand als bessere Alternative dargestellt.

Gibt es eine Ermüdung in Sachen Inklusion?

Schlegel: Nicht grundsätzlich. Befragungen zeigen, dass die Bereitschaft zur Inklusion im Allgemeinen hoch ist. Aber dem stehen große Beharrungskräfte der Institutionen gegenüber. In den bestehenden Wohn-, Arbeits- und Lernsystemen steckt ja auch jede Menge Geld.

Und dann gibt es immer wieder die Fälle, in denen andere Normen – wie der Denkmalschutz – das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe ausstechen. Dann kann die historische Veranstaltungsstätte oder das Schulgebäude eben nicht barrierefrei umgebaut werden.

Palleit: Das ist rechtlich überhaupt nicht nachvollziehbar. Es ist total eindeutig, dass es andersrum sein muss. Wir haben hier ein Menschenrecht, das den Stellenwert eines Grundrechts hat. Das scheint in Behörden und Gerichten noch nicht überall angekommen zu sein. Viel zu häufig muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Oft sind diese vermeintlichen Normkollisionen aber auch nur Scheinkonflikte, die von denen heraufbeschworen werden, die nicht die Energie aufwenden wollen, beides zusammenzudenken.

Da sind andere Länder weiter?

Schlegel: Auf jeden Fall. In den USA sind Tankstellen auf der Autobahn barrierefreier als bei uns Hotels in der Hauptstadt.

Die Konvention Die UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert die Menschenrechte für Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen. Mehr als 180 Staaten haben sie ratifiziert. In Deutschland gilt sie seit 2009.

Die Prüfung Am 29. und 30. August wird die deutsche Umsetzung der Konvention durch die UN in Genf geprüft. Dafür reicht die Bundesregierung einen Staatenbericht ein. Das Deutsche Institut für Menschenrechte als unabhängige Kontrollinstitution sowie Selbstvertretungen wie der Deutsche Behindertenrat reichen Parallelberichte ein. In einem konstruktiven Dialog haben Re­gie­rungs­ver­tre­te­r*in­nen Gelegenheit, Stellung zu nehmen.

Das Ergebnis Nach der ersten Prüfung 2015 hat der zuständige UN-Ausschuss Empfehlungen zum Abbau von Sonderstrukturen sowie eine besondere Aufforderung zum Gewaltschutz ausgesprochen – dazu musste Deutschland bereits nach einem Jahr erneut berichten.

Palleit: … und in Irland hat jedes noch so historische Pub eine barrierefreie Toilette. Das haben die schon vor zehn Jahren gesetzlich verankert. Warum soll das in Deutschland nicht gehen? Was ist das für eine seltsame Regulierungsangst, was für ein Begriff von Freiheit?

Es gibt die sehr grundsätzliche Kritik, dass die UN-Behindertenrechtskonvention nicht umsetzbar ist innerhalb der Verwertungslogik des kapitalistischen Systems, in dem wir nun einmal leben.

Palleit: Wir haben hier immer noch den Effekt, dass Gewinne privatisiert und Kosten überwiegend vergesellschaftet werden. Grundsätzlich würde ich aber sagen: Die Behindertenrechtskonvention ist ein Ausdruck dessen, was wir in Deutschland unter Gerechtigkeit verstehen wollen, sonst hätten wir sie nicht unterzeichnet. Und wenn einer Verwirklichung dieser Konvention Verwertungslogiken entgegenstehen, dann haben wir ein Problem mit den Verwertungslogiken und dem Leistungsgedanken. Vielleicht fehlt uns an manchen Stellen noch die Fantasie, aber natürlich ist eine Umsetzung der Konvention im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft möglich.

Wer genau muss den Druck aufbauen, damit sich wirklich etwas ändert?

Palleit: Wir alle.

Schlegel: Die Politik ist natürlich die Impulsgeberin, aber Inklusion ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann eine inklusive Schule für alle. Wenn Kinder von Anfang an gemeinsam leben und lernen, und jeder Mensch kennt Menschen mit Behinderung schon von Kindheit an, dann würde man sich doch fragen, wo tauchen sie dann ab, wo sind sie denn auf einmal nach der Schule? Dann kann man sie nicht einfach in einer besonderen Wohnform oder in der Werkstatt abseits von der restlichen Gesellschaft betreuen.

Die inklusive Schule als gesellschaftlicher Gamechanger?

Schlegel: Ja, das kann die Ini­tial­zündung sein. Einer der Gründe, warum uns Erwachsenen die Fantasie für inklusive Lösungen fehlt, sind doch die fehlenden Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen. Das Resultat sind Berührungsängste und der schnelle Glaube an die Notwendigkeit von separaten Schutzräumen.

Palleit: Und wenn ich mir was wünschen dürfte, dann, dass die, die sich mal nach vorne wagen, nicht gleich bei ein bisschen Gegenwind den Mut verlieren. Ein Beispiel: 2016 hat Schleswig-Holstein das Wahlgesetz geändert und alle Wahlunterlagen in leichter Sprache aufgelegt, für alle. Die Landtagswahl wurde durchgeführt, der Landtag ist unfallfrei gewählt worden und durch die ganze Legislaturperiode gekommen. Die Demokratie ist nicht zusammengebrochen. Aber es gab Menschen, die sich durch die Wahlunterlagen in ihrem Intellekt beleidigt fühlten. Es gab Proteste von nichtbehinderten Menschen. Und was macht die Landesregierung? Sie dreht das Ganze zurück. Da wünsche ich mir doch etwas mehr Standhaftigkeit.

Inklusion ist nicht nur ein Menschenrecht, die Umsetzung wird auch immer mit dem Nutzen für alle gerechtfertigt.

Schlegel: Wir verwenden beide Argumentationen gleichzeitig. Mir fällt kein Bereich ein, wo die Inklusion nicht auch im Sinne der Mehrheitsgesellschaft ist. Eine diversere Gesellschaft ist immer eine freiere, respektvollere und tolerantere Gesellschaft.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Das würden bestimmt nicht alle Menschen unterschreiben. Ist das Erstarken rechter Kräfte auch ein möglicher Grund für die Stagnation der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention?

Palleit: In Teilen der Gesellschaft setzt sich mehr oder weniger verdeckt das Narrativ fest, dass die Grundrechte der Mehrheitsgesellschaft mehr wert sind als die Grundrechte der Minderheiten. Ich erinnere an die Triagedebatte. Das ist ganz gefährlich, denn diese Unterscheidung gibt es ja gerade nicht in den Grundrechten.

Jetzt brauchen wir aber noch ein Beispiel, wo in den letzten ­Jahren wirklich was geschafft wurde.

Palleit: Der barrierefreie Notruf ist ein gutes Beispiel. Der Deutsche Gehörlosen-Bund hat massiv dafür gekämpft, und 2015 gab es nach der letzten Staatenprüfung eine ausdrückliche Forderung aus Genf. Und jetzt haben die Länder tatsächlich gemeinsam die Nora-App aufgesetzt, die übrigens nicht nur von Menschen mit eingeschränkten Hör- und Sprechfähigkeiten genutzt wird. Sondern auch von Frauen, die sich zum Beispiel verfolgt fühlen.

Gehen Sie davon aus, dass Deutschland in der kommenden Woche wieder eins auf den Deckel kriegt in der Staatenprüfung durch die UN?

Schlegel: Auf jeden Fall.

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