Jurist über Kunstfreiheit in Afghanistan: „Menschen abbilden ist gefährlich“

Die Reihe „Hidden Statement“ zeigt virtuell Kunst aus Afghanistan, die die Künstler das Leben kosten kann. Jurist Michael Mai versucht, zu helfen.

ein Ausschnitt der virtuellen Ausstellung des/der Künstler:in Sun (Pseudonym)

Kein Gesicht ist zu erkennen, trotzdem ist die Abbildung in Afghanistan gefährlich Foto: Nassauischer Kunstverein Wiesbaden

taz: Herr Mai, Sie standen den Ku­ra­to­r:in­nen Elke Gruhn und Yama Rahimi bei der Konzipierung der virtuellen Ausstellungsreihe „Hidden Statement“ juristisch zur Seite. „Hidden Statement“ macht eine für uns unbekannte bildende Kunst aus Afghanistan frei zugänglich. Sichtbar zu sein, ist für die in Afghanistan lebenden Künst­le­r:in­nen aber eine Gefahr. Wie kann man ihre Kunst im Web dokumentieren und die Ur­he­be­r:in­nen gleichzeitig schützen?

Jahrgang 1977, ist ein Rechtsanwalt aus Berlin. Er war 2006 Rechtsreferendar an der Akademie der Künste in Berlin. In Zusammen­arbeit mit der Artistic Freedom Initiative (AFI) und Kultureinrichtungen setzt er sich für die Evakuierung bedrohter Künst­le­r:in­nen aus Afghanistan ein.

Michael Mai: Die Kula Compagnie um Theaterregisseur Robert Schuster und ihr Film „Das fünfte Rad“ waren für mich ein Vorbild. Darin treten Schauspielerinnen auf, die sich damals in Afghanistan im Untergrund befanden, aber in völliger Anonymität blieben. Der einzige gangbare Weg für die Ausstellung war also die komplette Anonymisierung der Künstler:innen. Bei „Hidden Statement“ werden nur Pseudonyme verwendet und die biografischen Angaben sind so reduziert, dass eine Rückverfolgung ins Leere führen würde. Ich glaube, die strikte Vertraulichkeit im Umgang mit Namen und Daten ist zentral für das Gelingen dieser Ausstellung. Nur ein sehr kleiner Kreis kennt sie vollständig.

Alles Bildmaterial, alle Erläuterungen wurden für „Hidden Statement“ per Messengerdiensten gesammelt. Begeben sich die Künst­le­r:in­nen nicht schon durch das bloße Abfotografieren und Versenden in Gefahr?

Das größte Risiko sind Daten und nicht gelöschte Chatverläufe auf Smartphones und Computern, wenn diese an Checkpoints, bei Festnahmen oder Hausdurchsuchungen – und davon gibt es viele – den Taliban in die Hände fallen.

Spüren die Taliban Künst­le­r:in­nen auch über ein Cyber-Überwachungssystem auf?

Die Taliban nutzen die Überwachungstechniken nicht so aktiv, wie es möglich wäre. Bildende Künst­le­r:in­nen fallen anders auf. Wenn sie sich etwa Material beschaffen wollen, das bei den Lebensbedingungen unerschwinglich teuer geworden ist. Das fängt bei Farben an. Viele werden auch denunziert.

Auf welcher rechtlichen Grundlage verfolgen die Taliban Künstler:innen?

Ich habe versucht, an Urteile ranzukommen, an irgendein Dokument der Rechtsprechung. Bislang erfolglos. Die Taliban verfolgen Künst­le­r:in­nen brutal und willkürlich. Grundlage ist eine fanatische Auslegung religiöser Texte. Aber wer weiß, wer sie wann wie auslegt. Das ist das Schlimme für die Menschen vor Ort. Mal wird jemand für zwei Tage festgenommen und kommt frei, mal endet jemand tot im Graben.

In den virtuellen Einzelausstellungen sieht man viel figurative Malerei und Fotografie, Bilder von Menschen und Plätzen, kaum abstrakte Anspielungen. Ist diese Art der konkreten Darstellung nicht ein besonderes Risiko?

Menschen abzubilden ist gefährlich! Insbesondere Frauen – vor allem ohne Verschleierung! Dass Frauen massiver Verfolgung ausgesetzt sind, ist nur mit dem verächtlichem Rollenverständnis der Taliban ihnen gegenüber zu erklären. Auch Ehemänner oder männliche Verwandte werden stellvertretend bestraft, da sie ihrer Rolle des „Aufpassers“ auf die Frauen nicht ausreichend nachgekommen seien. Das erhöht den sozialen Druck innerhalb der Familien enorm.

Wie konnten Sie in dieser bedrohlichen Lage überhaupt Kontakt zu den Künst­le­r:in­nen aufnehmen?

Erste Kontakte kamen von Yama Rahimi, der bis 2015 in Afghanistan lebte und selber Künstler ist. Und mittlerweile hat sich ein großes Netzwerk entwickelt. Uns vertrauen viele, auch weil wir seit zwei Jahren beständig daran arbeiten, Künst­le­r:in­nen und Kulturschaffende in Sicherheit zu bringen. Im August 2021

… als das Auswärtige Amt in einer zehntägigen Aktion Menschen aus Afghanistan evakuierte, worauf jetzt, zwei Jahre später, eine gerade freigeschaltete, neue Reihe von „Hidden Statement“ hinweist

… da wurden Namen für eine Menschenrechtsliste zusammengetragen, aber deren Schließung nicht kommuniziert. Der Frust war groß. Doch einige wurden doppelt geführt, wir konnten daher die Liste um wenige zusätzliche Namen korrigieren. Samiullah Nabipour, der ehemalige Dekan der Kunstfakultät der Universität Kabul, war dabei. Im Dezember 2021 hatten wir die Idee einer Verzichtserklärung für diejenigen, die schon in einem sicheren Drittland waren. Gut 250 weitere Familien rückten so auf der Menschenrechtsliste nach. Das hat sich in den Netzwerken schnell verbreitet und Vertrauen in uns geschaffen. Zu den Nachrückerinnen gehörte auch Zarghuna Haidari. Sie hat in Kabul das Kulturzentrum Pole Surkh geleitet und sich offen für die Bildung von Frauen eingesetzt. Ihr Name und ihr Gesicht waren bekannt. Erst im Frühjahr 2022 erfuhren wir, dass sie sich in einem Safe House versteckte. Ihre Evakuierung war ein Rennen gegen die Zeit: Eine Gruppe aus dem Safe House war von den Taliban aufgegriffen worden, sie hätten an Informationen zu ihrem Aufenthalt gelangen können. Binnen weniger Stunden erfuhr das Auswärtige Amt davon, nahm mit Zarghuna Kontakt auf, verglich dann die Listen. Das war unglaublich – und zudem an einem Freitagnachmittag. Ihre Evakuierung über Pakistan nach Deutschland gelang in wenigen Tagen. Zarghuna studiert heute Kunst in Süddeutschland.

Die virtuelle Ausstellungsreihe endet, wenn alle ihre 200 Künst­le­r:in­nen evakuiert wurden. Wann wird das sein?

Um einen leitenden Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes aus einer öffentlichen Veranstaltung zu zitieren: „Die Zahl lautet nicht 42“ – seine Anspielung auf den Film „Per Anhalter durch die Galaxis“ –, „sondern 1.000 Personen pro Monat.“ Das ist aktuell das maximale Kontingent. Würden die 1.000 eingehalten, wäre die Ausstellung schon in sechs Monaten beendet. Das wird mit dem jetzigen Tempo im Bundesaufnahmeprogramm nicht laufen. Die Visa­vergabe war für Monate ausgesetzt, jetzt langsam fährt sie wieder hoch.

„Hidden Statement. Art in Afghanistan“: Nassauischer Kunstverein Wiesbaden, in Kooperation mit Villa Massimo, Goethe-Institut Rom, Walter’s Cube, HfG Offenbach, Kunsthochschule Weißensee. www.kunstverein-wiesbaden.de

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