1.-MAI-FREAK-SHOW
: Bierflaschenverbot

Alle brüllen, die Oranienstraße sei voll

1. Mai. Es ist schwül. Das ruft offenbar sehr widersprüchliche Gefühle hervor. Fup trifft eine Freundin, die gerade getauft worden ist. Gut, dass er nicht weiß, wovon die Rede ist, sonst würde er das auch wollen. Obwohl, wenn man ihm sagen würde, dass er da Wasser über den Kopf gekippt kriegt, wäre diese Sache schnell vom Tisch.

Die Eltern haben keinen Bock auf die Menschenmassen rund um den Lausitzer Platz. Andere begeistern sich genau dafür. Fups Freund Vico will auch mit, um „ein paar Steine zu schmeißen“. Sagt die Mutter, aber dann ist er eingeschlafen und wir müssen allein losziehen. In der Admiralstraße sagt ein Mann: „Das ist ja verantwortungslos mit dem kleinen Kind.“ „Ist es schon so schlimm?“, frage ich. Aber der Mann ist schon weiter. Wir gehen die Skalitzer Straße lang. Hinter einem stabilen Gitter hat es sich eine türkische Familie auf Campingstühlen bequem gemacht, grillt und guckt das Spektakel, das heute spannender ist als die Nachrichten, in denen fünf Minuten lang Leute zum Wetter auf Langeoog befragt werden. Unter der Linie 1 paradieren viel zu warm angezogene Polizisten, während ihnen eine düsenjägerlaute Rockband im Weg steht. Nadja sagt jede Minute einmal: „Was für eine Freak-Show.“ Manchmal auch öfter. Sehr viele junge Menschen sind unterwegs, in sehr unterschiedlicher Garderobe, mit proletarischem Schick, aber alle haben ein Handy am Ohr und brüllen hinein, dass die Oranienstraße voll sei. Auf der Wade einer dicken Frau bewundere ich ein Pin-up-Tattoo.

Alle tanken Bier aus Plastikbechern, denn es wurde ein Bierflaschenverbot über Kreuzberg verhängt, wie mir ein türkischer Bierverkäufer sagt, der mich ständig mit „Mein Herr“ anredet. In der Lausitzer Straße kommt uns eine Frau in einem langen schwarzen, sehr eleganten Abendkleid entgegen. Zur revolutionären 1.-Mai-Demo geht sie nicht. KLAUS BITTERMANN