Ausstellung Nadia Kaabi-Linke in Berlin: Die Haken der Geschichte

Die Sowjets beschlagnahmten vor etwa 100 Jahren Kunst aus der Ukraine. Künstlerin Nadia Kaabi-Linke hat ihr nachgespürt und zeigt, was aus ihr wurde.

Blick in die Ausstellung von Nadia Kaabi-Linke, in der Mitte ein Rosa

Sicht in Nadia Kaabi-Linkes Ausstellung „Seeing Without Light“ im Hamburger Bahnhof Berlin Foto: © Nadia Kaabi-Linke / 2023 VG Bild-Kunst, Bonn / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jacopo La Forgia

Das Bildnis von Alexej Iwanowitsch Rykow muss immer wieder arglos in irgendeine Nische geschoben worden sein. Ganz abgeschürft ist die Farbe am Rand der Leinwand, und der sandbraune Malgrund ragt in das Rokoko­interieur, vor dem Isaak Brodsky den sowjetischen Politiker Rykow in den 1920ern im Stil des sozialistischen Realismus porträtierte. Der aus dem ukrainischen Berdjansk kommende Brodsky hatte viele aufgestiegene und gefallene Helden der frühen UdSSR gemalt. Doch das Porträt von Rykow taucht in den Inventarlisten nicht mehr auf. Auch das Gesicht wurde übermalt. Rykow fiel den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Er wurde 1938 exekutiert. Die Sow­jets beschlagnahmten das Gemälde.

In der soeben eröffneten Berliner Ausstellung „Seeing Without Light“ gibt es eine mit Acrylfarbe bedeckte Kompositplatte, die den Maßen des Rykow-Porträts entspricht. Nur ein schwarzes Rechteck hängt da. Doch wenn man mit den Fingern über seine reliefartige Oberfläche streift, kann man die Verschandelungen des Originals ertasten, spürt die Schürflinien, die Übermalungen. Was man da fühlen kann, das sind die materiellen Spuren von politischem Terror.

Nadia Kaabi-Linke, die in Berlin lebende Konzeptkünstlerin, Jahrgang 1978, Tochter einer Ukrainerin und eines Tunesiers, hat jetzt für den Hamburger Bahnhof mit diesen Reliefs eine beeindruckende Installation geschaffen. Künstlerisch hoch ­konzentriert und minimalistisch. Acht solcher schwarzen Platten zeigt sie, dahinter werfen sich wie ein heller Schatten weiße Flächen an die Wand. Mehr sieht man nicht in „Blindstrom for Kazimir“. Von Brodski oder Rykow erfährt man nichts.

Auch nicht von Iryna ­Zhdanko. Im dunklen Kubismus hielt sie um 1927 die Armut auf Kyjiws Straßen fest. Die Avantgardekünstlerin überlebte den Holodomor, den Vernichtungskrieg der Nazis, den Stalinismus, doch ihr kritisches Gemälde sollte nicht sein. Diese Fakten kann man spüren entlang der reproduzierten Falten und Kratzer, entlang Kaabi-Linkes materiellem Destillat von einer Gewalt an den Bildern und gleichsam von einer Gewalt an einer Kultur in der Ukraine.

„Seeing Without Light“: Nadia Kaabi-Linke. Hamburger Bahnhof – ­Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin. Bis 7. April 2024

Die den Sowjets unliebsamen Avantgarden

Seit einigen Jahren hat Kaabi-Linke gemeinsam mit der ukrainischen Kunsthistorikerin Daria Prydybailo, nun Kuratorin am Hamburger Bahnhof, Verbleib und Zustand von Gemälden einer geheimen Sammlung erforscht. Der „Spezfond“ umfasst mehrere Hundert Bilder ukrainischer Künst­le­r:in­nen aus den 1920er und 1930er Jahren, viele von ihnen Ver­tre­te­r:in­nen der damals florierenden und den Sowjets unliebsamen Avantgarden. Sie wurden von der Zentralregierung in Moskau beschlagnahmt und zensiert. Die Werke sollten vernichtet werden. Das vereitelte paradoxerweise der Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Viele Bilder des „Spezfond“ landeten in Prag, dann in Moskau, einige gelangten später zurück nach Kyjiw ins Natio­nalmuseum.

Ursprünglich wollte Kaabi-Linke ihre Reliefs in der Ukraine neben den Originalen ausstellen. Doch dann begann Russland seinen brutalen Angriffskrieg. ­Kaabi-Linke zeigt in Berlin nun nur noch die schwarzen Platten. Und sie schlägt in ihrer Installation den Bogen zu uns. Denn wo die Originale hätten sein können, sind weiße Schatten zu sehen. Leerstellen. Was wissen wir eigentlich über die ukrainischen Avantgarden? Warum haben wir einen in der Ukraine aufgewachsenen Kasimir Malewitsch in den hiesigen Museen so lange als Vertreter einer russischen Avantgarde behandelt, ohne genug anzuerkennen, dass auch er einst von den Sowjets verfolgt wurde?

Während Putin jetzt erneut im Krieg die Existenz der Ukraine grausam infrage stellt, holt Kaabi-Linke mit „Blindstrom for Kazimir“ eine Kunst hervor, deren tragische Geschichte eigentlich schon vorwegnahm, was sich heute im Krieg reproduziert. Und sie tut dies auf eine einprägsame und kluge Weise.

Und das hätten die Ku­ra­to­r:in­nen der Ausstellung, Sam Bar­daouil und Daria Prydybailo, wohl einfach so stehen lassen können, als eine Möglichkeit in einem Museum für zeitgenössische Kunst über diesen Krieg in der Ukraine nachzudenken. Doch „Seeing Without Light“ ist gleich eine ganze Werkschau von Nadia Kaabi-Linke. Ohne Zweifel eine interessante Künstlerin. Die Haken der Geschichte, gesellschaftliche, auch ökologische Konflikte materialisiert sie in präzisen, vergeistigten Bildern. Gleich 18 ihrer Werke zeigt die Schau. Zu viel, zu heavy.

Kuhmägen an Fleischerhaken

Man sieht eine Parkbank, die mit Vogelspikes zum Folterinstrument umgewandelt wurde. Sie steht in Richtung des historischen Bahnsteigs 69, von dem einst Juden deportiert wurden. Man sieht Glastafeln, auf denen Kaabi-Linke 2012 Narben eingravieren ließ. Marken von häuslicher Gewalt an Frauen. Fragile Keramikabdrucke von Kuhmägen hängen an polierten Fleischerhaken.

Wie will man, fragt man sich beim Besuch der Berliner Schau, den empfindlichen Stellen von Geschichte und Gesellschaft nachspüren, wenn man in so bildlicher Schärfe mit ihrer Fülle konfrontiert wird? Man kann es eigentlich nicht. Der Minimalismus von Nadia Kaabi-Linkes einzelnen Kunstwerken, er hätte auch der gesamten Ausstellung gelten müssen.

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