Allende vor dem Palast von La Moneda in Santiago de Chile

Präsident Salvador Allende, mit Helm, im Präsidentenpalast von La Moneda, kurz bevor er während des Putschs starb Foto: Redux/laif

50 Jahre Putsch in Chile:Der andere 11. September

Am 11. September 1973 stürzten Chiles Militärs die gewählte linke Regierung. Folter und Mord folgten – und ein radikaler Umbau der Gesellschaft.

Ein Artikel von

10.9.2023, 18:59  Uhr

Das Land war eine Hoffnung. Nach dem gescheiterten Ungarnaufstand von 1956 und dem Prager Frühling, dem von Truppen des Warschauer Paktes 1968 ein Ende bereitet wurde, schien es, dass der demokratische Sozialismus in Chile eine neue Chance bekommen würde.

Sechs Parteien hatten sich 1970 für die Präsidentschaftswahlen in Chile zur Unidad Popular („Volkseinheit“) zusammengeschlossen und auf den Arzt Salvador Allende als Kandidaten geeinigt: Allendes Sozialistische Partei, die Kommunistische, die Radikale und die Sozialdemokratische Partei sowie zwei linke Abspaltungen von der Christdemokratischen Partei.

In der Wahl erhielt Allende nur eine relative Mehrheit gegenüber dem konservativen Kandidaten Jorge Alessandri, aber in der Stichwahl im Kongress setzte er sich dank der Unterstützung durch die Christdemokraten durch. An Feinden fehlte es von Anfang an nicht. Henry Kissinger, Nationaler Sicherheitsberater und ab September 1973 Außenminister der USA, und der Geheimdienst CIA unternahmen alles, um Allendes Wahl zu verhindern und, als das nicht gelang, ihn zu stürzen.

Das erste Jahr der Regierungszeit verlief jedoch ziemlich günstig für die Unidad Popular. Massive Einkommensumverteilung zugunsten der Armen führte zu einem starken Nachfrageschub und zu einem gewissen Wirtschaftswachstum. Dass Kartoffeln, Bohnen und Zigaretten um rund 50 Prozent mehr nachgefragt wurden, zeigte nur, wie verbreitet die Armut vorher war. Es bedeutete aber auch, dass Versorgungsengpässe unvermeidlich wurden.

Der Text ist am 8. September 2023 als Teil einer achtseitigen Chile-Beilage in der taz erschienen. 50 Jahre ist es her, dass in Chile ein von den USA unterstützter Militärputsch am 11. September 1973 der demokratisch gewählten Regierung des Sozialisten Salvador Allende ein jähes Ende setzte. Mehr als 3.000 Menschen kamen während der folgenden Diktatur (1973 – 1990) ums Leben, noch mehr wurden inhaftiert, gefoltert und ins Exil getrieben. Die taz Panter Stiftung nimmt das Jubiläum zum Anlass, um zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unterstützt von der Stiftung Umverteilen an die damaligen Geschehnisse zu erinnern und zugleich zu fragen, wie die Ereignisse vor 50 Jahren die gesellschaftlichen Verhältnisse von heute beeinflussen. Einige Texte wurden auch auf Spanisch veröffentlicht.

Im zweiten Jahr wurde Chile zu einem Laboratorium des Klassenkampfes, der immer heftiger geführt wurde. Und zwar vor allem vonseiten der wohlhabenderen Schichten. Damen aus den besseren Vierteln zogen auf leere Kochtöpfe schlagend durch die Straßen. 1972 organisierte der Verband der Fuhrunternehmer einen Streik, der die Versorgung der Bevölkerung völlig lahmlegen sollte.

Bei Parlamentswahlen im März 1973 erhielten die Parteien der Unidad Popular 43 Prozent der Sitze und verhinderten damit eine Zweidrittelmehrheit der Opposition, die zur Abwahl Allendes nötig gewesen wäre. Wegen der Befürchtungen, dass es einen Putsch geben könne, berief Allende 1973 führende loyale Militärs in die Regierung. So wurde der Oberbefehlshaber des Heeres, General Prats, zum Innenminister ernannt. Dessen umsichtiges Eingreifen vereitelte Ende Juni 1973 einen Putschversuch. Dadurch fühlten sich die Parteien der Unidad Popular noch sicherer, dass ein Putsch verhindert werden könnte.

General Prats wurde in dieser Zeit von Generalsgattinnen so heftig als „Feigling“ beschimpft, dass er schließlich zurücktrat und Allende empfahl, seinen Stellvertreter, den als loyal geltenden General Augusto Pinochet zum neuen Oberbefehlshaber des Heeres zu ernennen. Damit war das Schicksal der Unidad Popular besiegelt. Allende beschloss, in die Offensive zu gehen und am 11. September 1973 eine Volksabstimmung anzukündigen. Daraufhin verlegten die Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte den Termin des ursprünglich für später geplanten Putsches auf diesen 11. September vor.

Chile, 11. September 1973

Salvador Allende konnte an diesem Morgen noch in den Präsidentenpalast, die Moneda, fahren. Von hier aus sandte er, als das Gebäude bereits bombardiert wurde, noch eine Radiobotschaft an sein Volk: „Mit Sicherheit ist dies die letzte Gelegenheit, mich an Sie zu wenden. […] In diesem historischen Moment werde ich die Treue zum Volk mit meinem Leben bezahlen. […] Sie haben die Macht, sie können uns überwältigen, aber sie können die gesellschaftlichen Prozesse nicht durch Verbrechen und nicht durch Gewalt aufhalten. Die Geschichte gehört uns und sie wird durch die Völker geschrieben. […] Es lebe Chile! Es lebe das Volk! Es leben die Arbeiter! Dies sind meine letzten Worte und ich bin sicher, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird.“

Eine Reihe von Menschen liegt auf dem Boden, die Hände hinter dem Kopf, neben ihnen stehen bewaffnete Soldaten und im Hintergrund ein Panzer

1973, als die chilenische Regierung unter Salvador Allende durch einen Militärputsch unter der Führung von Pinochet gestürzt wurde Foto: United Archives/imago

Während die Luftwaffe Angriffe auf die Moneda flog und Teile des Gebäudes zerstörte, wies Allende seine Begleiter an, den Palast zu verlassen. Wie erst später eindeutig festgestellt wurde, erschoss er sich dann selbst mit einer Waffe, die ihm Fidel Castro geschenkt hatte.

Die Gegner des Putsches wurden von Anfang an unnachgiebig verfolgt. Hunderte wurden ermordet, Tausende gefoltert, Zehntausende in Konzentrationslager verbracht. Die DINA, der Geheimdienst der Putschisten, operierte auch im Ausland. So wurden General Prats in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires, der ehemalige sozialistische Außenminister Orlando Letelier in Washington durch Autobomben ermordet und der beliebte linke Christdemokrat Bernardo Leighton in Rom auf offener Straße angeschossen. Leighton überlebte allerdings das Attentat in Rom und starb erst 1995 in Chile.

Die Gewaltenteilung wurde aufgehoben: Die legislative und die exekutive Gewalt lagen nun allein bei de Junta. Sollten Gesetze gegen die bisherige Verfassung verstoßen, so sollten sie automatisch als verfassungsändernd gelten.

Als die Generäle 1973 die Macht übernahmen, gab es zwar schon einen fertigen Plan für eine neoliberale Wirtschaft, aber er war den Militärs nicht bekannt. Deren Hauptmotiv war die „Ausmerzung des marxistischen Krebsgeschwürs“, wie das der Luftwaffengeneral Gustavo Leigh nannte. Sehr bald aber wurde klar, dass die Militärjunta politisch mehr wollte als nur eine Wiederherstellung der Situation, wie sie vor der Wahl Allendes geherrscht hatte. Hernán Cubillos von der Geschäftsleitung der Tageszeitung El Mercurio, des Zentralorgans der chilenischen Großbourgeoisie, empfahl den Admirälen wärmstens eine Gruppe von Ökonomen, deren Mehrheit von der Katholischen Universität kam, Abschlüsse von der Universität Chicago hatte und insgeheim seit 1972 einen Plan für die Destabilisierung und den Sturz der linken Regierung ausgearbeitet hatte, der außerdem auch ein Regierungsprogramm für diesen Fall enthielt. Eine Untersuchungskommission des US-Senats hat später bekannt gemacht, dass die Gelder für die Aktivitäten dieser Mannschaft von der CIA bereitgestellt wurden.

Salvador Allende in seiner letzten Radiobotschaft aus dem bombardierten Präsidentenpalast am 11. September 1973

„Ich bin sicher, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird“

Bis Anfang 1975 hatte die Mannschaft aus Chicago aber schwer um die Kontrolle der Wirtschaftspolitik zu kämpfen. Die mit der Wirtschaft beauftragten Militärs widmeten am Anfang ihre Hauptanstrengungen dem Ausgleich des Staatshaushalts und der Verminderung der Inflation. Auch das erste vornehmlich von Zivilisten gestellte Wirtschaftsteam bekräftigte die Absicht, die Inflation durch gemäßigte Schnitte im Staatshaushalt zu vermindern, weil man fürchtete, dass drastische Lösungen katastrophale Ergebnisse zeitigen würden.

Die wurden dann tatsächlich mit der „Schockbehandlung“ erreicht, die im April 1975 unter Führung der „Chicago Boys“ eingeleitet wurde. Die „schrittweise“ Inflationsbekämpfung wurde verworfen und die Kürzung des Staatshaushalts drastisch verstärkt. Die Maßnahmen stürzten die Wirtschaft in eine tiefe Rezession, während derer das Bruttoinlandsprodukt um 12,9 Prozent sank.

Zwischen 1973 und 1980 wurden buchstäblich alle Kontrollen der Regierung über die Einzelhandelspreise abgeschafft; nur die Löhne, also die Preise für die Ware Arbeitskraft, blieben streng kontrolliert. Die Rolle des Staates wurde drastisch zurückgefahren. Zwischen 1973 und 1979 gingen die Regierungsausgaben von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 26 Prozent zurück.

Anschließend konzentrierten die Chicago Boys ihre Anstrengungen darauf, die Logik des Marktes auf die Gesamtheit gesellschaftlicher Beziehungen auszudehnen. Das bedeutete die Privatisierung der grundlegenden sozialen Dienste im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und in der Sozialversicherung, die Ausarbeitung eines „Plan Laboral“, der dazu bestimmt war, mittels der Repression der existierenden Gewerkschaften „eine freie Gewerkschaftsbewegung“ zu entwickeln.

Autoritarismus als lebenswichtiges Element

Der Einfluss der Chicago Boys auf den Diskurs der regierenden Militärs wurde immer offenkundiger. Schockbehandlung und die Einschränkung des Staatsapparates hatten verheerende Wirkungen auf die Mittelklasse und ihre Entwicklungsaussichten; gleichzeitig war die Arbeitslosigkeit auf bis dahin unbekannte Höhen von weit über 30 Prozent gestiegen. Soziale Kosten dieser Größenordnung hätte man unter demokratischen Verhältnissen nicht durchsetzen können. Der Autoritarismus war also für die neoliberale „Revolution“ ein lebenswichtiges Element.

Von der Klassenneutralität, derer sich der „wissenschaftliche“ Neoliberalismus so sehr rühmte, konnte dabei keine Rede sein. Das Zerstörungswerk war verbunden mit einer beispiellosen Umverteilung zu Ungunsten der ärmeren Schichten. Chile wurde eins der Länder in der Welt, in denen Einkommen und Vermögen am ungleichsten verteilt sind.

Viele Menschen laufen eine Strase entlang, im Vordergund winkt Salvador Allende mit einem Taschentuch

Der neu ins Amt eingeführte chilenische Präsident Allende winkt, als er am 3. November 1970 durch die Straße vom Kongress zur Kathedrale in Santiago geht Foto: ap/picture alliance

Das bleibende Ergebnis der neoliberalen „Revolution“ besteht aber vor allem darin, in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eine Atomisierung der Gesellschaft hervorgebracht zu haben, wie sie in Chile viele Jahrzehnte lang nicht bekannt gewesen war. Die Menschen sind mit aller Macht dazu gebracht worden, nur noch das eigene persönliche Wohlergehen zum Maßstab aller Dinge zu machen. Solidarität, im Chile vor 1973 eine sehr verbreitete Tugend – war nicht mehr gefragt.

Der Artikel ist auch auf Spanisch erschienen.

Urs Müller-Plantenberg, Jahrgang 1937, Soziologe, war 1973 Mitbegründer der Zeitschrift „Chile Nachrichten“ (heute „Lateinamerika Nach­richten“).

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.