Anthropologin über Massengräber in Chile: „Die Angehörigen brauchen Klarheit“

Immer wieder tauchten in Chile von der Diktatur hinterlassenen Massengräber auf. Die Anthropologin Daniela Leiva sucht nach „Verschwundenen“.

Ausgegrabenes Skelett

Daniela Leiva bei der Arbeit Foto: ECHAF

taz: Frau Leiva, Sie arbeiten als forensische Anthropologin. Was ist Ihre Aufgabe?

Daniela Leiva: Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, menschliche Überreste zur Identifizierung zu nutzen. Wir untersuchen Überreste, die nicht durch Fingerabdrücke oder das Gesicht identifiziert werden können. Dabei kann es sich um abgetrennte Körperteile handeln, oft in einem fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung, einzelne Knochen oder auch um mumifizierte oder verbrannte Leichen.

Wie sind Sie zu dieser Tätigkeit gekommen?

Mein Großvater war politischer Gefangener während der Militärdiktatur von Pinochet. Er gehörte vor dessen Tod zu einer Gruppe Ärzte, die Salvador Allende betreuten. Nach dem Militärputsch 1973 unterstützte er die MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) im Untergrund medizinisch. Dafür wurde er festgenommen und 14 Monate eingesperrt, wobei er 4 davon als sogenannter desaparecido, also als Verschwundener, galt, weil meine Familie nicht wusste, wo er war. Unter anderem hielt man ihn währenddessen in der Villa Grimaldi fest, einem der bekanntesten Folterzentren der DINA – der Geheimpolizei Pinochets. Aufgewachsen mit dieser Familiengeschichte wollte ich einen Beitrag zur Aufklärung der Verbrechen leisten, die während der Diktatur in Chile begangen wurden, und so wenn möglich für etwas Gerechtigkeit sorgen.

Der Text ist am 8. September 2023 als Teil einer achtseitigen Chile-Beilage in der taz erschienen. 50 Jahre ist es her, dass in Chile ein von den USA unterstützter Militärputsch am 11. September 1973 der demokratisch gewählten Regierung des Sozialisten Salvador Allende ein jähes Ende setzte. Mehr als 3.000 Menschen kamen während der folgenden Diktatur (1973 – 1990) ums Leben, noch mehr wurden inhaftiert, gefoltert und ins Exil getrieben. Die taz Panter Stiftung nimmt das Jubiläum zum Anlass, um zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unterstützt von der Stiftung Umverteilen an die damaligen Geschehnisse zu erinnern und zugleich zu fragen, wie die Ereignisse vor 50 Jahren die gesellschaftlichen Verhältnisse von heute beeinflussen. Einige Texte wurden auch auf Spanisch veröffentlicht.

Konzentrieren Sie sich in Ihrer Arbeit deshalb auf die Verschwundenen?

Auch. Im Zuge meines Studiums habe ich zudem an Ausgrabungen von Massengräbern aus dem Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie wichtig diese Arbeit ist. Die Kinder der Verschwundenen waren teilweise schon tot oder sehr alt, also haben die En­ke­l*in­nen weiter nach ihren Verwandten gesucht. Das Verschwindenlassen von Menschen ist eine gezielte Foltertechnik, die eine Familie derart entwaffnet, dass das hinterlassene Trauma über Generationen hinweg vererbt wird. Gibt es eine verschwundene Person in der Familie, zerbricht die Familienstruktur für immer.

Und wenn Sie die Überreste finden und an die Familien zurückgeben, ist die Gerechtigkeit wiederhergestellt?

Nein, aber immerhin können die Familien so vielleicht abschließen. Viele forensische An­thro­po­lo­g*in­nen entscheiden, dass die Familien nicht an der Bergung der menschlichen Überreste teilnehmen sollen. In meinem Team finden wir aber, dass es ein wichtiger Teil der Wiedergutmachung ist, wenn die Familien teilhaben können – sofern sie das möchten. Hier in Chile sind bis zu 50 Jahre vergangen, in denen die Menschen nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Auch, wenn ziemlich klar ist, dass sie tot sind, brauchen die Angehörigen Klarheit. Wir ziehen auch Psy­cho­lo­g*in­nen hinzu, um die Angehörigen zu unterstützen, aber auch, damit wir, wenn nötig, selbst Hilfe bekommen. Massengräber auszuheben ist keine leichte Arbeit, es ist ein komplexer Prozess und teilweise brutal. An die Arbeit mit den sterblichen Überresten gewöhnt man sich, aber der Kontext, der kann einem zu schaffen machen.

ist forensische Anthropologin und leitet das chilenische Team für forensische Anthropologie und Menschenrechte, ECHAF.

Sie sprechen von Wiedergutmachung. Wäre es im Falle Chiles nicht Aufgabe des Staates, diese zu leisten?

Im Grunde ja. Allerdings herrscht wenig Vertrauen diesbezüglich in die staatlichen Institutionen. In den Neunzigerjahren wurden im Norden des Landes sowie auf einem Friedhof in Santiago Massengräber gefunden. Damals gab es keine Spe­zia­lis­t*in­nen in Chile, die qualifiziert gewesen wären, diese Identifizierungen durchzuführen. Es wurden viele Fehler gemacht und Leichen falsch identifiziert, an ihre Angehörigen übergeben. Diejenigen, die die Fehler begingen, arbeiteten für den staatlichen gerichtsmedizinischen Dienst, weshalb viele heute diesem gegenüber noch misstrauisch sind. Viele Angehörige sehen im heutigen Staat immer noch ebenjenen, der unter Pinochet für die Verbrechen an ihren Familienmitgliedern verantwortlich ist. Das liegt auch daran, dass keiner von den Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurde.

Das Misstrauen in die chilenischen Institutionen wie Polizei und Justiz hält bis heute an, sagten Sie. Was hat das mit dem Aufstand von 2019 zu tun?

Während der Massenproteste 2019 wurden sukzessive Menschenrechte verletzt. Für diese Fälle wurde von staatlicher Seite bis heute keine Verantwortung übernommen. Mein Team und ich arbeiten an einem Fall, bei dem sechs Menschen in einer Wäschefabrik verbrannt sind. Die Untersuchungen des gerichtsmedizinischen Dienstes waren – nennen wir es – nachlässig. Weshalb unser Team eine weitere Untersuchung vorgenommen hat. Dabei haben wir festgestellt, dass die Knochen Spuren von Projektilen aufwiesen, was vorher nicht dokumentiert wurde. Die Untersuchungen laufen noch, weshalb wir noch nicht sagen können, was da genau passiert ist.

Eine letzte Frage: Mögen Sie Ihre Arbeit?

Trotz aller Schwierigkeiten, ja. Wir opfern viel Zeit und Energie für diese Aufgabe, weshalb die meisten von uns auch kein Familienleben haben. Es ist emotional herausfordernd, aber für mich bedeutet es auch eine Möglichkeit, Teil des historischen Gedächtnisses zu sein. Besonders heute, wo die Rechte wieder derart stark ist und weite Teile der Gesellschaft einem Negationismus verfallen sind, darf dieses Thema nicht in Vergessenheit geraten. Denn die Vergangenheit dieses Landes wirkt bis heute nach.

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