Umgang mit dem Fall Aiwanger: Neue Wurschtigkeit

Antisemitismus ist kein Tabu mehr. Der Fall Aiwanger ist eine Zäsur: 20 Jahre nach der Hohmann-Affäre weicht die Union den Konsens auf.

Hubert Aiwanger mit Krawatte und Anzzug vor einem Wandgemälde

Der Fall Aiwanger hat den Erinnerungs-Diskurs verändert Foto: Sven Hoppe/reuters

„Bravourös“ nannte Friedrich Merz den Umgang von Markus Söder mit dem Aiwanger-Skandal. Mit diesem überschwänglichen Lob steht der CDU-Parteichef ziemlich alleine da.

Von allen anderen Parteien im Bundestag – die AfD ausgenommen – wurde Söders Entscheidung, Aiwanger als seinen Stellvertreter im Amt zu belassen, scharf kritisiert. Selbst in seiner eigenen Partei sehen das manche anders als Merz. Die schleswig-holsteinische CDU-Politikerin Karin Prien nannte den Aiwanger-Skandal eine „Zäsur für die Erinnerungskultur“ in Deutschland. Der Fall ist auch eine Zäsur für die Union.

Die letzte Zäsur dieser Art liegt ziemlich genau 20 Jahre zurück. 2003 hielt der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann in der Nähe von Fulda vor den Mitgliedern eines CDU-Ortsverbands eine Rede zum Tag der Einheit. Darin sagte Hohmann sinngemäß, wer Deutsche pauschal als „Tätervolk“ bezeichne, der müsse „der gleichen Logik“ zufolge auch „die Juden“ als „Tätervolk“ bezeichnen.

Es dauerte eine Weile, bis der antisemitische Tenor dieser Rede skandalisiert wurde. Nach einer breiten öffentlichen Debatte entschied sich die damalige CDU-Vorsitzende Angela Merkel im November 2003, Hohmann aus der Fraktion auszuschließen und seinen Rauswurf aus der Partei voranzutreiben. Die Union war damals, wie heute auch, in der Opposition.

Die bürgerliche Elite applaudierte

Knapp vier Jahre nach der Walser-Debatte und kurz nach der Möllemann-Affäre war das ein mutiger Schritt. Der Schriftsteller Martin Walser hatte 1998 in seiner Friedenspreis-Rede in der Frankfurter Paulskirche von Auschwitz als „Moralkeule“ gesprochen und das Holocaust-Denkmal als „Alptraum“ bezeichnet. Die gesamte anwesende bürgerliche Elite hat ihm dafür applaudiert.

Vier Jahre später spielte der FDP-Politiker Jürgen Möllemann im Wahlkampf mit antisemitischen Ressentiments und wurde dafür – erst nach einem enttäuschenden Ergebnis bei der Bundestagswahl 2002 wohlgemerkt – von seiner eigenen Partei hart abgestraft. Die Debatten um Walser, Möllemann und Hohmann öffneten die Augen dafür, dass Antisemitismus nicht nur in Form von Holocaust-Relativierung und Geschichtsrevisionismus in dumpfen Bierzelt-Runden, sondern in verfeinerter Form auch in bürgerlichen Kreisen gedeiht.

Seitdem hat sich viel getan. Merkel erklärte als Kanzlerin den Kampf gegen Antisemitismus zur Chefsache und ließ sich dafür von einem Ex­per­t:in­nen­kreis beraten. Die Zahl der staatlich bestellten Antisemitismusbeauftragten wächst seither beständig. Selbst die AfD ist, zumindest offiziell, strikt gegen jeden Antisemitismus und hat deswegen sogar mal einen Landtagsabgeordneten ausgeschlossen: den wirren Verschwörungsideologen Wolfgang Gedeon in Baden-Württemberg.

Konservative und Rechte entdeckten aber auch recht bald, dass sich der „Kampf gegen Antisemitismus“ prima gegen Linke und Ein­wan­de­r*in­nen wenden lässt. Die Debatten um den Philosophen Achille Mbembe und die letztjährige Documenta entfalteten nur deshalb so eine Wirkung, weil sich konservative und rechte Medien und Po­li­ti­ke­r:in­nen daran beteiligten und sie auf die Spitze trieben.

Springer ist merkwürdig milde

Die Zeitungen des Springer-Konzerns, allen voran die Bild, legten dabei einen besonderen Eifer an den Tag. Als man dort vor zwei Jahren herausfand, dass die Journalistin (und ehemalige taz-Kolumnistin) Nemi El-Hassan während des Gaza-Kriegs 2014 an einem antiisraelischen Al-Quds-Marsch teilgenommen hatte, kannte die Bild ebenfalls kein Pardon.

Obwohl sich El-Hassan tränenreich entschuldigte und erklärte, sie schäme sich rückblickend dafür, verlor sie ihren Job beim WDR. Der Fall steht exemplarisch für einen Übereifer, der in den vergangenen Jahren in Kultur und Medien eingezogen ist. So wurden wiederholt Konzerte und Ausstellungen abgesagt, Preise zurückgezogen und Künst­le­r:in­nen ausgeladen, nachdem herauskam, dass diese in der Vergangenheit etwa einen Israel-Boykott unterstützt hatten.

Angesichts dieser Strenge erstaunt die neue Wurschtigkeit, mit der Merz, Söder und Springer-Zeitungen aktuell über den Aiwanger-Skandal hinweggehen. Jetzt, wo der Antisemitismusvorwurf einen konservativen Politiker trifft, sind sie merkwürdig milde. Das rechtsextreme Flugblatt, Berichte über Hitler-Grüße und antisemitische „Witze“, das alles wird zu einer bloßen „Jugendsünde“ verniedlicht.

Merkel erklärte den Kampf gegen Antisemitismus einst zur Chefsache und ließ sich von Ex­per­t:in­nen beraten

Obwohl sich Aiwanger dazu weder erklärt noch wirklich entschuldigt hat, lässt die Bild deutliche Sympathien für ihn erkennen. Die Welt-Kolumnistin Anna Schneider und der Cicero freuen sich vielmehr darüber, dass „die Berliner Blase“ endlich „ihre Deutungshoheit verliert“. Und FAZ-Herausgeber Bertold Kohler meint, dass sich „die Leute nicht mehr bevormunden“ lassen wollten. Auf die Stimmen von Jü­d*in­nen, die sich über Aiwanger entsetzt zeigen, meint man, nicht mehr hören zu müssen. Antisemitismus ist kein Tabu mehr.

Die AfD radikalisiert sich indes weiter. AfD-Chefin Alice Weidel bekennt, die Niederlage Nazi-Deutschlands sei für sie kein Grund zum Feiern, und AfD-Spitzenkadidat Max Krah erklärt: „Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher.“ Natürlich ist Aiwangers jugendlicher Rechtsextremismus nicht dasselbe. Aber wenn Aiwanger seinen – auch jüdischen – Kri­ti­ke­r*in­nen eine „Instrumentalisierung der Shoah“ vorwirft, dann hallt darin Walsers Rede von der „Moralkeule ­Auschwitz“ nach. Merz, Söder und Bild scheint das nicht zu stören. Auch deshalb kann sich Aiwanger als Opfer einer linken Kampagne inszenieren, und seine Freien Wähler erleben in den Umfragen einen ungekannten Höhenflug.

Doch Friedrich Merz ist viel zu beschäftigt damit, das Erbe Merkels abzuräumen. In Thüringen hat die Union unter seiner Ägide Löcher in die „Brandmauer“ gegen rechts gerissen. Sein Lob für Söder zeigt, dass ihm auch die Folgen des Aiwanger-Skandals für die Erinnerungspolitik egal sind.

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Daniel Bax ist Redakteur im Parlamentsbüro der taz. Er schreibt über Innen- und Außenpolitik in Deutschland, über die Linkspartei und das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW). 2015 erschien sein Buch “Angst ums Abendland” über antimuslimischen Rassismus. 2018 veröffentlichte er das Buch “Die Volksverführer. Warum Rechtspopulisten so erfolgreich sind.”

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