Protest für Bildungs-Sondervermögen: Zeitenwende statt Staatsversagen

Die Bildungskrise führt zum ersten landesweiten Protest seit Jahren. Die In­itia­to­r:in­nen fordern 100 Milliarden – und Führung vom Kanzler.

Schüler protestieren mit Sarg gegen Bildungsgtod

Demonstrierende Schü­le­r:in­nen 2008 in Hannover Foto: Jochen Lübke/dpa/picture alliance

In den vergangenen 15 Jahren hat sich in Deutschland viel getan. Um mal das Positive zu nennen: Das Land hat seine Kernkraftwerke runtergefahren, die Union den Mindestlohn eingeführt, in der Bundesregierung gibt es mittlerweile Beauftragte für sexuelle Vielfalt und Antirassismus. Und, und, und. Doch während sich die Gesellschaft in manchen Bereichen erfreulich progressiv entwickelt, tritt das Bildungssystem seit Jahren auf der Stelle – und das ist gesellschaftspolitisch fatal.

In seinem zen­tralen emanzipatorischen Versprechen versagt der Staat bis heute: dass ein sozialer Aufstieg für jedes Kind möglich sei. Es ist schon erstaunlich, dass es in all den Jahren nicht ein Mal zu einem landesweiten Bildungsprotest gekommen ist.

Der letzte, der den Namen verdient, begann im Sommer 2008. Heute erinnern sich viele nur mehr an die Studierenden, die sich gegen Studiengebühren und die überstürzte ­Bologna-Reform wehrten. Angefangen hatte der Protest jedoch unter Jugendlichen, die sich gegen Schulsponsoring, Turboabi und Leistungsdruck stemmten, Schulstreik inklusive. Auch wenn das Aufstiegsversprechen dabei vielleicht keine Rolle spielte – das Gefühl der umfassenden Bildungskrise war ähnlich verbreitet wie heute.

Auch vor 15 Jahren ging es schon um fehlende Investitionen, marode Gebäude und mangelnde Lehrkräfte. Nach jenem Protestsommer sollte die damalige Kanzlerin Angela Merkel übrigens versprechen, die Bildungsausgaben auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Ein ähnliches Signal lässt ihr Nachfolger Olaf Scholz in der aktuellen Bildungskrise vermissen. Vielleicht kommt es ja noch.

An diesem Samstag nämlich findet wieder ein landesweiter Bildungsprotest statt. Ausgerufen hat ihn die Initiative Bildungswende jetzt!, der 180 Bildungsorganisationen und Gewerkschaften angehören. Ein so breites Bündnis für Bildung ist eine gute Nachricht. Vor allem ist es eine Abrechnung mit den Politiker:innen, die uns seit Jahren mit den immer gleichen Phrasen abspeisen.

Doch wenn es darum geht, endlich anzupacken, bremsen sich Bund und Länder oft gegenseitig aus. Oder es fehlt dann leider doch das Geld. Eine Regierungspartei verspricht nicht weniger als weltbeste Bildung – und legt gleichzeitig den Rotstift am Bildungsetat an. Und der Kanzler schaut zu.

Auch deshalb gehen jetzt Schü­le­r:in­nen und Eltern, Erzieher:innen, So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen und Lehrkräfte in 29 Städten auf die Straße. Sie fordern, dass die Politik die Bildungskrise endlich ernst nimmt. Und dass der Bundeskanzler auch hier eine Zeitenwende ausruft – inklusive Sondervermögen über 100 Milliarden Euro. Die Forderungen sollten Kabinett und Kultusministerkonferenz ernst nehmen. Denn die Lage ist es auch.

Wie schlimm es ist, zeigt ein Blick in die Statistiken. Aktuell fehlen bundesweit fast 400.000 Kitaplätze. Jedes vierte Grundschulkind kann am Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen. Die Inklusion besteht weitgehend nur auf dem Papier. Rund 50.000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Die Chancen für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, es aufs Gymnasium zu schaffen, sind auch heute beschämend niedrig. Und von denen, die ein Studium beginnen, ist ein Drittel von Armut gefährdet. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Auch in dieser Woche kamen weitere Horrormeldungen hinzu.

Pausenbrot keine Selbstverständlichkeiten

So hat eine Umfrage der Robert Bosch Stiftung unter Lehrkräften ergeben, dass die Kinderarmut an Schulen sichtbar zugenommen hat. Für immer mehr Kinder sind Klassenfahrten, Sportvereine, selbst Stifte und Pausenbrot keine Selbstverständlichkeiten. Es sagt viel aus über den Zustand an Schulen, wenn Leh­re­r:in­nen im Verhalten der Kinder mittlerweile eine größere Herausforderung sehen als im Personalmangel.

Für die Ängste, Konflikte und Konzentrationsprobleme von Jugendlichen gibt es sicher die unterschiedlichsten Gründe. Klar ist aber: Das Personal hat bei den oft miesen Arbeitsbedingungen eigentlich gar keine Chance, sich um alle Schü­le­r:in­nen ausreichend zu kümmern. Trotzdem finden sich multiprofessionelle Teams wahrscheinlich öfter in Redemanuskripten als in den Lehrerzimmern vor Ort.

Und, falls dies alles nicht schon genug ist, so schnell wird es nicht besser. Soeben haben die Kultusministerien ihre Prognose zur Schü­le­r:in­nen­zahl aktualisiert: Bis 2035 wächst sie um fast 10 Prozent. Was das für die durch zu wenig Personal gebeutelten Schulen bedeutet, rechnete dann prompt die GEW vor: In den nächsten zwölf Jahren benötigt das Bildungssystem mehr als eine halbe Million (!) neuer Lehrkräfte, um seine Arbeit gut erledigen zu können.

Eigentlich lassen die Fakten keinen anderen Schluss zu, als Bildung mit absoluter Priorität zu behandeln. Doch erschreckenderweise ist davon wenig zu spüren. Das sieht man beispielsweise am Kompromiss beim sogenannten Startchancen-Programm, für den sich Bund und Länder gerade feiern. Mit dem Programm will die Ampelregierung 4.000 Brennpunktschulen gezielt fördern. Bil­dungs­for­sche­r:in­nen haben angemahnt, dass das Geld unbedingt nach sozialen Kriterien verteilt – und mit ausreichend vielen Milliarden ausgestattet – ­werden muss. Der gefeierte Kompromiss dürfte die Ex­per­t:in­nen aber enttäuschen. Denn letztlich wird ein Teil der Gelder erneut mit der Gießkanne ausgeschüttet. Und mehr als eine zusätzliche Milliarde pro Jahr wird wohl nicht an die Schulen fließen. Um die anhaltende Chancenungleichheit wirksam zu bekämpfen, bräuchte es deutlich mehr.

So bleibt das Startchancen-Programm ein guter erster Schritt. Den Bildungsprotest wird es nicht besänftigen können. Bundeskanzler Scholz muss endlich Position beziehen. Am besten beruft er einen Bildungsgipfel ein, um mit allen Beteiligten über die notwendigen nächsten Schritte zu reden.

Dazu könnten gehören: ein Staatsvertrag, der die Bundesländer dazu verpflichtet, genug Lehrkräfte auszubilden und die Ausbildung praxisnäher zu gestalten; eine Neuorientierung der Lehrpläne, die weniger auf Noten denn auf die Herausforderungen der Zukunft (Stichwort Klimakrise) ausgerichtet ist; natürlich ein Sondervermögen über 100 Milliarden Euro, um die notwendigen Investitionen an Kitas und Schulen auch tätigen zu können; und nicht zuletzt die Anhebung der Bildungsausgaben auf 10 Prozent des BPI.

Dieses Versprechen hat Deutschland schließlich noch nicht eingelöst – auch nicht nach 15 Jahren.

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Seit 2013 für die taz tätig, derzeit als Bildungsredakteur sowie Redakteur im Ressort taz.eins. Andere Themen: Lateinamerika, Integration, Populismus.

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