Das Glas ist jetzt drei Viertel voll

Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall hat die ostdeutsche Wirtschaft 78 Prozent der westdeutschen Leistungsfähigkeit erreicht. Umsteuern der Förderpolitik gefordert

„Der Osten kann weiter aufholen, aber er wird den Westen nicht erreichen“

AUS BERLIN NICK REIMER

Der Ort war mit Bedacht gewählt: In der Gedenkstätte Berliner Mauer haben am Donnerstag Wirtschaftsforscher die Bilanz des Aufbaus Ost vorgestellt. „20 Jahre nach dem Mauerfall liegt das Niveau der ostdeutschen Arbeitsproduktivität bei 78 Prozent des Westniveaus“, sagte Karl-Heinz Paqué, Pro-Dekan der Wirtschaftswissenschaft der Universität Magdeburg. Je Erwerbstätigem werden mittlerweile knapp 80 Prozent der westdeutschen Wirtschaftsleistung erbracht.

Man könne also sagen, dass das Glas zu drei Vierteln gefüllt sei, sagte Paqué in Anlehnung an die „halbvolle“ Bilanz, die einst Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höpnner (SPD) zum zehnjährigen Einheitsjubiläum formuliert hatte. Paqué selbst war in Höppners Nachfolgeregierung bis 2008 für die FDP Finanzminister in Magdeburg.

Verantwortlich für den wirtschaftlichen Aufholprozess sind die deutlich höheren Wachstumsraten im Osten. „Die Industrie ist hier jahrelang doppelt so stark wie im Westen gewachsen“, analysiert Karl Brenke, Ostexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Möglich wurde dies durch die Solidarpakt-Milliarden, die die strukturellen Defizite im Osten beseitigen sollten.

Im Vergleich mit anderen osteuropäischen Ländern, die ihre Transformation ohne solche Milliarden zu bewältigen haben, wird der Erfolg des Solidarpaktes deutlich: So liegt die Arbeitsproduktivität in Tschechien heute bei 30 Prozent des Westniveaus, also 48 Prozentpunkte unter dem Niveau Ostdeutschlands.

Zumindest den infrastrukturellen Aufholprozess könne man als nahezu abgeschlossen bezeichnen, erklärte Paqué. Notwendig sei jetzt deshalb ein Umdenken in der Förderpolitik. „Statt in Beton muss jetzt stärker in die Köpfe investiert werden“, fordert der Wirtschaftsprofessor. Größte Hürde bei einem weiteren Schließen der Lücke seien nämlich die fehlenden Forschungs- und Entwicklungskapazitäten. Der Osten sei noch viel zu sehr verlängerte Werkbank des Westens, die ostdeutsche Wirtschaft erreiche gerade einmal die Hälfte der westdeutschen Innovationskraft.

„Der Osten kann weiter aufholen, aber er wird den Westen nicht erreichen“, urteilt Joachim Ragnitz vom Institut für Wirtschaftsforschung. Dies liege zum einen an der Struktur Ostdeutschlands, wo es viel mehr ländliche Räume gebe als im Westen. „Und die wirtschaftlichen Kenndaten ländlicher Räume liegen nun einmal deutlich unter denen der Ballungszentren“, so Ragnitz. Zudem ist die ostdeutsche Wirtschaft schwer vom demografischen Knick bedroht. Seit der Wende sind zwei Millionen Menschen abgewandert, und jetzt kommt der Geburtenknick der 90er-Jahre. Den Prognosen nach werden in 20 Jahren nur noch 80 Prozent der heutigen Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, in 40 Jahren sogar nur noch 60 Prozent. Ragnitz: „Weniger Menschen bedeutet natürlich weniger Wachstum.“

DIW-Präsident Klaus F. Zimmermann fordert deshalb einen anderen Umgang mit Zuwanderung in Ostdeutschland. „Die Menschen müssen sich von dem Irrglauben verabschieden, dass Zuwanderer ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen – das Gegenteil ist richtig.“

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