Slowenische Dichterin über Heimatland: „Wenn ich dichte, lebe ich“

Slowenien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse und rühmt sich mit der „dichtesten Dichterdichte“. Eigentlich werde die Lyrik vernachlässigt, sagt Anja Zag Golob.

Portrait der slowenischen Lyrikerin Anja Zag Golob

Die slowenische Lyrikerin Anja Zag Golob Foto: Žan Koprivnik

taz: Frau Zag Golob, Slowenien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse und wirbt damit, das Land mit der dichtesten Dichterdichte zu sein. Ist das ein guter Marketingtrick oder wird heute immer noch so viel und dicht gedichtet wie früher mal?

Anja Zag Golob: Wahr ist, dass Slowenien sehr viel Poesie zu bieten hat. Aber damit endet die romantische Geschichte auch schon. Das Angebot ist groß, es wird experimentell und in freien Versen gedichtet, hier wird gereimt und geslammt und das auch von sehr jungen Leuten. Aber gleichzeitig wird immer weniger Lyrik verlegt. In Wahrheit ist die Lage der Dichtung in Slowenien eine ziemliche Katastrophe.

So schlimm?

Es ist sehr leicht zu sagen: Slowenien ist ein Land der Dichtung. Aber die Realität sieht anders aus. Worte sind billig. Und in diesem Fall stimmen sie nicht mit der Wirklichkeit überein.

Wie sieht die Wirklichkeit aus?

Dass sich fast niemand kümmert. Die Lyrik wird vernachlässigt. Es wird argumentiert, dass es sich nicht mehr lohnt, Lyrik zu verlegen, weil sie niemand mehr kauft. Und so werden immer weniger Lyrikbände gedruckt, statt sich zu überlegen, wie man das ändern kann, wie man Gedichte wieder populärer machen kann. Es wäre die Aufgabe des slowenischen Kulturministeriums und der slowenischen Buchagentur, spezifische Programme und Strategien zu entwickeln, um slowenische Lyrik zu fördern und auch Übersetzungen aus anderen Sprachen.

Leben

1976 in Slovenj Gradec geboren, studierte Anja Zag Golob Philosophie und Komparatistik in Ljubljana. Sie ist eine der populärsten slowenischen Dichterinnen und auch für ihre starke gesellschaftspolitische Stimme bekannt, da sie als Kolumnistin und Theaterkritikerin in der Zeitung Večer und der legendären TV-Show „Studio City“ publiziert. Sie ist zudem Gründerin und Leiterin von VigeVageKnjige, einem Verlag für Comics, und Dramaturgin für Kunst und Tanzperformance.

Gedichte

Anja Zag Golob hat bisher fünf Lyrikbände veröffentlicht. In deutscher Übersetzung erschien unter anderem in der renommierten Edition Korrespondenzen „Anweisungen zum Atmen“ (2018) und „dass nicht“ (2022). Für die letztere Sammlung erhielt sie den Kritiško sito, den Preis des Verbands slowenischer Literaturkritiker.

Immerhin haben im Vorfeld des Auftritts von Slowenien einige deutsche Verlage die großen Namen des 20. Jahrhunderts, Tomaž Šalamun, Fabjan Hafner, Srečko Kosovel, neu aufgelegt. Einige jüngere Stimmen, wie Ihre oder die von Cvetka Lipuš und Uroš Prah, wurden veröffentlicht, ein umfassender Sammelband mit slowenischer Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts ist erschienen.

Das ist alles schön und gut, aber mein Eindruck bleibt, dass die Dichtung Sloweniens vor allem als Schlagwort benutzt wird, um ein Image zu verkaufen. Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, warum wir slowenischen Dichter und Dichterinnen den Verlagen hinterherlaufen wie dem Bus, der einem vor der Nase wegfährt. Man steht immer Schlange bei den Verlagen, es dauert teilweise drei Jahre, bis ein Buch erscheint.

Dichtung ist aber nicht nur in Slowenien schwer zu vermarkten.

Ja, Dichtung ist zurzeit nicht grade ein Must-have. Das hat aber vor allem mit Vorurteilen zu tun. Irgendwann kam das Gerücht in die Welt, dass Lyrik schwer verständlich, kompliziert, anstrengend und was für alte Leute oder Kalender ist. Totaler Bullshit. Jeder kann Lyrik verstehen. Vor 20 Jahren war es ganz normal, Gedichte zu lesen. Heute scheint das etwas Sonderbares zu sein. Dabei gehört Lyrik ontologisch zum Menschen.

Was meinen Sie damit?

Wenn die Menschen den Kontakt zur Lyrik verlieren, verlieren sie den Kontakt zu sich selbst. Wenn ich dichte, merke ich, dass ich lebe. Dichtung lebt vom Rhythmus. Und was ist die Grundlage jeden Lebens? Der Herzschlag, der Rhythmus.

Der Rhythmus, wo jeder mit muss, wie es ein deutsches Sprichwort besagt.

Ja, absolut. Aber man muss den Rhythmus auch halten können. Dafür muss man kämpfen. Das kommt nicht einfach so, weder beim Schreiben noch beim Lesen von Gedichten. Das verlangt Arbeit, was Lyrik auch ist – Arbeit. Man muss sich selbst freimachen, muss sich öffnen, sonst bleibt man draußen. Dichtung ist das letzte Refugium, in dem radikale Freiheit möglich ist.

Welche Freiheit meinen Sie?

Freiheit von allen Zwängen. Die Dichtung gibt mir die Möglichkeit, alles, was ich mit Sprache machen kann, zu machen. Das ist reizend und sexy, eine ernste Sache und gleichzeitig ein Spiel, es macht Spaß und Arbeit. Der Kapitalismus übrigens hat gar keine Chance, in die Dichtung zu kommen. Da aber alles der Verwertungslogik unterliegt, sehnen sich Menschen nach einem Ort der Freiheit. Den scheinen viele momentan im Tätowieren gefunden zu haben. Ihre Haut ist der letzte Ort ist, über den sie selbst bestimmen können.

Angesichts des Hypes um Achtsamkeit, nachhaltiges Leben und Gedanken müsste es doch irgendwie gelingen, dass Gedichte als Superfood anerkannt werden?

Jedenfalls nicht auf den sozialen Medien. Auf diesen Marktplätzen geht es immer nur um den perfekten Körper und die beste Vermarktung. Das kann die Dichtung nicht liefern. Sie lässt sich nicht kapitalisieren.

Ein Gedicht passt aber eigentlich wunderbar auf eine Instagram-Kachel. Warum glauben Sie nicht an die sozialen Medien als Alternative zu einem herkömmlichen Buchverlag?

Weil Lyrik Zeit, Aufmerksamkeit und Arbeit braucht. Und wenn es eins nicht gibt in den sozialen Medien, dann Zeit und Aufmerksamkeit.

Ausgerechnet Ihre Lesungen sind aber doch bekannt dafür, nicht klassische Lesungen, sondern Performances mit starker Körpersprache zu sein.

Ja, das passiert automatisch. Es ist aber auch irgendwie logisch: Lyrik geht durch den Körper. Bei meinen ersten Lesungen hatte ich Angst davor, dass sich alle über mich lustig machen, weil es ziemlich ungewöhnlich ist. Und jetzt stehe ich da rum und wackele und lächle und die Leute lachen auch manchmal, aber im Großen und Ganzen scheinen sie mich zu verstehen.

Hat Dichtung mehr mit Körper als mit Kopf zu tun?

Mit beidem. Auch wenn es erst mal so scheint, als habe Lyrik mehr mit Logik zu tun, weil es um Worte geht. Aber bei Lyrik geht es so wie beim Übersetzen weniger um die exakte Wortwahl als ums Verstehen der Stimmung.

gummitwist mit bestie körper“ heißt es in einem Ihrer Gedichte, die voller Risse, Abgründe, Scharten und Krümel sind. Sind Ihre körperlichen Zurichtungsfantasien auch beeinflusst von Ihren eigenen Erfahrungen?

Sicher, das lässt sich gar nicht vermeiden, allein weil ich keine Cis-Person bin. Und natürlich überträgt sich diese Kraft, der Rhythmus, den ich beim Dichten gefunden habe, beim Vortragen der Gedichte auch wieder zurück auf meinen lebendigen Körper.

Wenn der Rhythmus Ihnen so wichtig ist: Inspiriert Sie ein Motörhead-Song genauso wie ein Gedicht von Kosovel?

Vielleicht nicht gerade Motörhead, aber ja, ich höre viel Musik.

Sie spielen in Ihren Gedichten nicht nur mit Sprache, sondern auch mit Form: Auslassungen, Abstände, Versalien – teilweise bilden Sie aus einzelnen Worten eine Gestalt. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Wenn Sie zwei Bücher öffnen, woran erkennen Sie, welches der Gedichtband und welches die Novelle ist?

An der Textmenge?

Auf den Seiten der Novelle ist alles bedruckt. Auf den Seiten des Gedichtbands ist viel Weißraum. Aber dieses Weiß ist nicht da, weil es in Lyrik zu wenig Worte gibt, sondern um zu sprechen. Das leere Weiß öffnet ein Feld. Da entstehen Fragen. Mit Unterbrechungen in den Zeilen baue ich noch mehr Freiraum ein. Ich radikalisiere mich in dieser Hinsicht immer mehr. In meinem neuen Gedichtband habe ich, so wie schon bei dem letzten, alles weggenommen, was ablenkt, alle Krücken der Sprache, alle Interpunktion.

Ist die Dichtung wegen ihrer anarchischen Möglichkeiten vielleicht das letzte Antidot gegen die KI?

Möglicherweise, ja. Und gegen den Kapitalismus und gegen die Dummheit.

Sie sind einer der Shooting-Stars der zeitgenössischen Dichterszene Sloweniens, eine bekannte Theaterkritikerin, politische Kolumnistin, haben den einzigen slowenischen Verlag für Comics und Graphic Novels. Warum sind Sie beim offiziellen Programm Sloweniens auf der Frankfurter Buchmesse nicht dabei?

Es gab im 2021 einen Leitungswechsel in der slowenischen Buchagentur unter der populistischen Regierung von Janez Janša. Der neue Leiter hat mir prompt öffentlich vorgeworfen, ich hätte einen Interessenkonflikt, wenn ich als Kolumnistin über den Auftritt Sloweniens in Frankfurt schreiben würde und gleichzeitig als Lyrikerin im Ausland auftrete und damit Slowenien repräsentiere. Um meine journalistische Freiheit als Kolumnistin zu verteidigen, blieb mir nicht anderes übrig, als mich von dem Buchmessenauftritt Sloweniens zu distanzieren, was ich in einer Kolumne im Oktober 2021 auch tat.

By the way, ich sehe meine Aufgabe als Dichterin nicht darin, irgendwen zu repräsentieren außer mich und meine Literatur. Ich aber bin eine Frau des Worts und stehe zu dem, was ich geschrieben und publiziert habe, da der Leiter sich für seine unseriösen Anschuldigungen nicht entschuldigt hat. Also bin ich nicht Teil des Gastlandauftritts, auch wenn das für meine Karriere ziemlich scheiße ist. Aber mir ist die Verteidigung der journalistischen Freiheit nun mal wichtiger.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.