Hamas-Angriff auf Israel: Wer verändern will, muss verstehen

Unser Korrespondent berichtet seit über 30 Jahren aus dem Nahen Osten. Für Sicherheit brauche es politische Lösungen, schließt er aus den früheren Kriegen.

Kinder laufen eine Straße entlang und haben verängstige Gesichter

Flucht vor den Bomben am al-Shifa-Hospital in Gaza Foto: Samar Abu Elouf/NYT/Redux/laif

Es gibt zwei Worte, die ähnlich klingen, aber doch Unterschiedliches meinen: „Verständnis“ und „Verstehen“. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn unschuldige Menschen auf einer Raveparty oder in einem Kibbuz in Israel von Hamas-Kämpfern niedergemetzelt werden. Genauso wenig, wie ich Verständnis dafür aufbringe, wenn 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen kollektiv für diese fürchterlichen Taten bestraft werden. Wer für diese Dinge Verständnis zeigt, sollte seinen moralischen Kompass neu ausrichten.

Ich finde alles, was wir in den vergangenen Tagen gesehen haben, entsetzlich. Und wenn ich sicherstellen will, dass Derartiges nicht geschieht, wenn ich nach Lösungen suche, dann muss ich die Situation analysieren. Ich muss versuchen, etwas zu „verstehen“, für das ich kein Verständnis habe.

Genauso wenig, wie ich Verständnis dafür aufbringe, wenn 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen kollektiv für diese fürchterlichen Taten bestraft werden, schutzlos israelischen Bombardements ausgeliefert sind und ihnen der Strom abgeschaltet und sie ausgehungert werden.

Ich verstehe, dass ganz Israel im Schock ist, dass viele dort nach einer militärischen Lösung rufen, manche auch einfach nach Rache und Vergeltung. Eine Bodenoffensive soll das Problem lösen, wir werden Hamas auslöschen, heißt es. Aber kann eine solche Offensive tatsächlich eine strategische Veränderung schaffen?

2006 musste ich als Journalist aus dem Libanon über den Krieg zwischen Israel und der Hisbollah berichten. Auslöser war damals ein, im Vergleich zu heute, wesentlich geringerer Anlass: Die Hisbollah hatte zwei israelische Soldaten entführt. Aus Israel hieß es damals, man werde die Hisbollah zerstören. Nach einer Woche Krieg hieß es nur noch, man wolle ihre Kapazitäten schwächen. Die meisten Todesopfer in diesem Krieg waren Zivilisten. Statt der Hisbollah wurde Infrastruktur zerstört. Die Hisbollah sitzt seitdem in jeder Regierung in Beirut.

Die Hamas blieb

Die Situation ist für die Weggesperrten und Besetzten genauso tödlich und untragbar wie für die Besatzer

Mehrere Bombardements und eine Bodenoffensive in Gaza in den letzten Jahren bewirkten das Gleiche. Große Teile des Streifens wurden zerstört, die Hamas blieb. Die Idee, Kräfteverhältnisse mit stark überlegenen militärischen Mitteln zu verändern, scheitert immer wieder. Es gibt keine militärische Lösung in Gaza, die die Lage grundsätzlich strategisch verändern würde. Im Gegenteil: Jedes Kind, das heute in Gaza aus den Trümmern gezogen wird, wird in Zukunft nach noch radikaleren Mitteln rufen.

Ich verstehe, wie sehr das Gefühl, verwundbar zu sein, Israel erschüttert. Das Land wurde auf brutalste Weise eingeholt von einem Status quo, der nicht nachhaltig ist. Die Palästinenser empfinden die seit 15 Jahren andauernde Blockade und Besatzung, den rapiden Ausbau der Siedlungen als schreiende Ungerechtigkeit. Dies wurde international kaum mehr wahrgenommen. Das gilt es zu berücksichtigen, um jetzt die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Es ist eine Situation entstanden, die für die Weggesperrten und Besetzten genauso tödlich und untragbar ist wie für die Besatzer.

Beides: die grauenhaften Hamas-Morde an Zivilisten und die an Zynismus schwer zu übertreffenden Worte des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallander, der mit „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere“ die komplette Belagerung des Gazastreifens mit seinen 2,3 Millionen Menschen angeordnet hat, zeigen eines: Die Belagerung und die Besatzung haben nicht nur die Köpfe der Belagerten und Besetzten zerstört, sondern auch die der Belagerer und Besatzer.

Es wird eine Zeit kommen, in der viele über ihre Taten und Worte in dieser Woche erschrecken werden. Vielleicht ist es einfach auch noch der falsche Zeitpunkt für das „Verstehen“ und zu früh für die Frage, was all das langfristig bedeutet. Zu verletzt ist die Gefühlslage auf allen Seiten. Aber wer etwas verändern will, der muss verstehen.

Im schlimmsten Fall schlittern wir in einen Krieg mit vielen Fronten, vom West­jordanland und den Palästinensern, die in Israel als israelische Staatsbürger leben, bis hin zu einem neuen Krieg mit der Hisbollah im Libanon, sogar mit Iran. Den Szenarien sind kaum Grenzen gesetzt.

Aber vielleicht bringen die brutalen vergangenen Tage langfristig Bewegung in eine Geschichte, die bisher als unbeweglich galt.

Genau vor 50 Jahren brach der Jom-Kippur-Krieg aus, oder der Oktoberkrieg, wie er auf arabischer Seite heißt. Bei einem Überraschungsangriff überrannte die ägyptische Armee 1973 die israelischen Verteidigungslinien auf dem damals besetzten Sinai. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee, gewonnen im Sechstagekrieg 1967, war schwer angeschlagen. Das Ergebnis waren Verhandlungen auf Augenhöhe, die zum Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel führten.

Noch befinden wir uns mitten in der Rhetorik des Krieges, aber bald werden wir feststellen, dass keine militärische Lösung das gewünschte Ergebnis bringt. Dass sich die Palästinenserfrage nicht in Luft auflösen, sondern nur noch virulenter wird und nach einer politischen Lösung schreit. Wahrscheinlich nirgendwo wird das offener diskutiert werden als in der israelischen Gesellschaft selbst.

Es geht hier sicherlich nicht darum, Hamas mit der ägyptischen Armee zu vergleichen, und schon gar nicht darum, mit der Hamas Gespräche zu führen. Es geht darum, die heutigen Zusammenhänge zu verstehen, um dann andere herzustellen, die nicht der Hamas in die Hände spielen, die nicht tödlich für beide Seiten sind. Denn wirklich sicher wird es nur, wenn palästinensische Kinder, die heute aus den Trümmern ihrer Häuser in Gaza gezogen werden, eine echte Perspektive bekommen.

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Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

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