Präsidentschaftswahl in Argentinien: Erfundene Zahlen

Javier Milei ist Favorit für die Präsidentschaftswahl in Argentinien. Der Rechtsextreme verharmlost die Verbrechen der Militärdiktatur.

Frauen mit Transparenten bei einer Demonstration, im Hintergrund berittene Polizei

Argentinische Mütter demonstrieren in Buenos Aires im Jahr 1982 Foto: Horacio Villalobos/Corbis/Getty Images

Wahlkampf in Argentinien ist auch eine „Kulturschlacht“, wie es hier heißt. In der linken Mitte stehen die regierenden Peronist:innen, deren farbloser Präsidentschaftskandidat Sergio Massa als Wirtschaftsminister eine Inflation von 138 Prozent mitzuverantworten hat – eine fast aussichtslose Ausgangssituation. Ganz rechts macht der selbsternannte „Anarchokapitalist“ Javier Milei Furore, der den Staatsapparat radikal zusammenstreichen will und gute Chancen hat, die Wahl am Sonntag zu gewinnen. Und ziemlich weit rechts ist die frühere Innenministerin Patricia Bullrich, die auch noch in die Stichwahl einziehen könnte. Die Popularität des 52-jährigen ultraliberalen Exzentrikers Milei speist sich aus der Frustration über das als unfähig und korrupt wahrgenommenen Establishment: Während 40 Prozent der Bevölkerung arm sind, machen Fotos von Provinzpolitikern auf Luxusurlaub die Runde.

Nun hat der rechtsextreme Provokateur, der regelmäßig die „Politikerkaste“ angreift, den breiten Menschenrechtskonsens infrage gestellt, der die argentinische Demokratie über vier Jahrzehnte prägte. Die Terrorherrschaft, mit der eine Militärjunta zwischen 1976 und 1983 das Land überzogen hatte, wurde einhellig verurteilt. Das Grauen hatte System: Oppositionelle wurden gejagt, in hunderten Todeslagern gefoltert, vergewaltigt und ermordet, die Leichen beseitigt – Menschenrechtsgruppen und Regierung sprechen von 30.000 „Verschwundenen“. Tausende wurden auf den berüchtigten „Todesflügen“ in den Río de la Plata geworfen, Hunderte von Babys entführt und zur Adoption freigegeben.

Die Aufarbeitung dieser Verbrechen ist vorbildlich: 1.192 Menschen wurden verurteilt, 19 Prozesse sind noch in Gang. Die Unesco hat das in eine Gedenkstätte verwandelte frühere Folterzentrum der Marine zum Weltkulturerbe erklärt. Spielfilme wie „Argentinien, 1985 – Nie wieder“ über den ersten Prozess gegen die Juntageneräle erreichten ein Millionenpublikum. Doch nun werden die Stimmen wieder lauter, die das Regime verharmlosen – beflügelt von Milei und Victoria Villarruel, seiner Kandidatin für die Vizepräsidentschaft. In einem TV-Duell übernahm Milei mit Bedacht die Sprachregelung des damals verurteilten Marinechefs Emilio Massera, der 1985 von einem notwendigen „Krieg“ gegen die Subversion und vereinzelten Übergriffen gesprochen hatte.

Prekäre Datenlage

„In den 1970er Jahren gab es einen Krieg, die Sicherheitskräfte begingen Exzesse, aber die Terroristen der Montoneros und des ERP töteten, legten Bomben und begingen auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, behauptete der Kandidat. Und: „Es sind nicht 30.000 Menschen verschwunden, sondern 8.753.“ Anders als von Milei suggeriert, gibt es jedoch keine genauen Angaben. Die 30.000 Verschwundenen sind eine symbolische Zahl. Mitte 1978 waren Militärgeheimdienstler bereits von 22.000 Ermordeten ausgegangen, wie aus deklassifizierten US-Dokumenten hervorgeht. Auf dem Land ist die Datenlage prekär. Listen, falls vorhanden, wurden offenbar vernichtet.

„Staatsterrorismus kann man nicht mehr so leicht negieren, es ist offensichtlich, was alles geschehen ist“, sagt der Journalist Fernando Tebele. „Also verharmlost man und behauptet, dass es nicht 30.000 waren – als ob es auf exakte Zahlen ankäme.“ Victoria Villarruel stammt aus einer Familie von Militärs und redet seit langem die Verbrechen der Diktatur klein. Vor einigen Wochen organisierte sie im Stadtparlament von Buenos Aires eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der Guerilla­gruppen in den 1970er Jahren, draußen protestierten Men­schen­rechts­ak­ti­vis­t:in­nen lautstark und warfen ihr „Negationismus“ vor.

Villarruel lässt das kalt. Denn sie beklagt seit vielen Jahren, dass mehr als 1.000 Menschen vor und zu Beginn der Diktatur von den peronistischen Montoneros und dem Revolutionären Volksheer (ERP) getötet wurden. Für diese Opfer fordert sie staatliche Würdigung und für ihre Angehörigen Reparationszahlungen, wie sie auf der Gegenseite schon längst üblich sind. Dass Milei und Villarruel die Gewalt der Staatsmacht und jene bewaffneter Gruppen gleichsetzen, ist nichts Neues – in den 1980ern sprach man von der „Theorie der zwei Dämonen“. Und zur Geschichte gehört eben auch, dass sich ab 1973 linke und rechte Peronisten gegenseitig bekämpften und so die Diktatur mit heraufbeschworen.

Javier Milei vor einer Gruppe Menschen

Präsidentschaftskandidat Javier Milei Foto: Mariana Nedelcu/reuters

Villarruel ging 2021 in die Politik und schaffte prompt den Sprung ins Parlament. Im Falle eines Wahlsiegs soll die 48-Jährige für Polizei und Militär zuständig sein. Die Verbindung zur rechtsextremen Vox-Partei in Spanien stellte sie her. Die Parallelen zwischen Milei und Donald Trump, Jair Bolsonaro in Brasilien oder dem Chilenen José Antonio Kast sind ebenfalls unübersehbar. Auch der Argentinier gibt sich als Klimaleugner, Abtreibungsgegner und geifert gegen „kulturellen Marxismus.“ Die argentinische Armee spielt keine Rolle mehr in der Politik. In Brasilien hingegen hievte Bolsonaro Tausende Militärs in Regierungsämter und verteidigte immer wieder Folter und Mord während der Militärdiktatur (1964–85). In Chile ist die extreme Rechte ebenfalls auf dem Vormarsch, 44 Prozent der Chi­le­n:in­nen bekunden Verständnis für den Putsch gegen Salvador Allende.

Men­schen­recht­le­r:in­nen befürchten, als Staatschef könnte Milei die verurteilten Militärs begnadigen und die jahrzehntelange Kleinarbeit von Aktivist:innen, Anwälten und Richtern zunichtemachen. „Was haben wir falsch gemacht?“, fragt eine Universitätsdozentin, die um ihren Arbeitsplatz bangt und deshalb nicht namentlich genannt werden will. „Offenbar ist die Menschenrechtserziehung doch nicht so erfolgreich gewesen – aber kann man überhaupt solche extremen Erfahrungen an Nachgeborene weitergeben?“ Nun räche sich auch, dass große Teile der Menschenrechtsbewegung von den Kirchners kooptiert worden seien. Vor 20 Jahren hatte Präsident Néstor Kirchner, ein Linksperonist, beherzt die Aufklärungsarbeit vorangetrieben und eine neue Prozesswelle angestoßen. Allerdings entzweite sich die Bewegung, darunter die Mütter der Plaza de Mayo, in einen regierungsnahen und einen unabhängigen Teil.

Die jährliche Gedenkdemonstration zum Jahrestag des Putsches am 24. März ist bereits seit 2006 zweigeteilt, in diesem Jahr kamen 100.000 Menschen. Auch Cristina Fernández de Kirchner, zunächst populäre Staatschefin und heute sehr unbeliebte Vizepräsidentin, hat immer wieder Men­schen­recht­le­r:in­nen mit Stellen im Staatsapparat und Finanzmitteln geködert. Der Soziologe Daniel Feierstein vermisst die frühere Vielfalt der Bewegung, die von Liberalen über Pe­ro­nis­t:in­nen bis hin zur Linken reichte.

„Es ist ein Unterschied, ob Parolen von unten kommen oder von oben dekretiert werden“, meint der Forscher. „Die Rechte geht intelligent vor und arbeitet mit unseren Begriffen. Wir haben nur eine Chance, wenn wir verstehen, was die neuen Genera­tio­nen suchen, lauter schreien nützt nichts.“ Wie weit Milei das Koordinatensystem nach rechts verschoben hat, zeigte sich am Montag bei einer Wahlkampfveranstaltung der gemäßigten Konservativen. Jorge Macri, der wohl künftige Bürgermeister von Buenos Aires, rief: „Wie viele sind wir hier? 5.000, 6.000? Nein, 30.000. Wir sind wie die Peronisten – wir erfinden einfach eine Zahl.“

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