Bücher im Gespräch

Mike Laufenberg/Ben Trott (Hg.): „Queer Studies“. Übers. v. T. Atzert und Z. Wackwitz. Suhrkamp, Berlin 2023, 576 Seiten, 28 Euro

Adam Soboczynski: „Traumland. Der Westen, der Osten und ich“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023, 176 Seiten,

20 Euro

Anton Jäger: „Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen“. Übers. v. D. Janser, T. Zimmermann, H. Geiselberger. Suhrkamp, Berlin 2023, 136 Seiten, 16 Euro

Terézia Mora: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“. Luchterhand, München 2023, 448 Seiten, 25 Euro

Deniz Utlu: „Vaters Meer“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 384 Seiten, 25 Euro

Warum ausgerechnet Sexualität und Geschlecht zum Kristallisationspunkt erhitzter Debatten werden konnten, versteht, wer den Band „Queer Studies“ liest. Er macht anglophone Originaltexte aus drei Jahrzehnten auf Deutsch zugänglich und dokumentiert jenseits des aktuellen kulturkämpferischen Geplapppers queere Analysen zu Kapitalismus, Migration, Geopolitik und Kultur. Tania Martini

Saul Friedländer:„Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch“. Übers. v. A. Wirthensohn. C. H. Beck, München 2023, 237 Seiten, 24 Euro

Maxim Biller: „Mama Odessa“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 240 Seiten, 24 Euro

Charlotte Gneuß:„Gittersee“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023. 240 Seiten, 22 Euro

Tobias Rüther: „Herrndorf: Eine Biografie“. Rowohlt Berlin, Berlin 2023. 384 Seiten, 25 Euro

Nicholas Potter/Stefan Lauer: „Judenhass Underground. Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen“. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2023, 252 Seiten, 22 Euro

Anja Zimmermann:„Brust. Geschichte eines politischen Körperteils“. Wagenbach Verlag, Berlin 2023, 272 Seiten, 28 Euro

Was diese Lebenserinnerungen über andere vergleichbare Texte heraushebt, ist nicht nur ihre zweifellos authentische und so wirklichkeitsgetreu gestaltete Machart, sondern die Komposition der erinnerten Szenen, die zwar ein Leben erzählen, aber doch weit mehr sind: nämlich das anschauliche Bild eines historischen Epochenwandels, des Zeitalters des Endes des Kalten Krieges und der Aufteilung der Welt in West und Ost.

Micha Brumlik

Anton Jäger schlägt den Begriff Hyperpolitik vor, um die scheinbar extreme Politisierung der Gegenwart zu analysieren. Nach der Postpolitik der 1990er und der jüngsten Antipolitik der Rechten ist die Hyperpolitik Jäger zufolge ein Versuch, „den ehernen Griff des Neoliberalismus zu brechen, ohne dass die dafür notwendigen Ressourcen zu Verfügung stünden“. Interessanter Ansatz, der den Widerhall der Sozioökonomie in den politischen Formen zeigt, jedoch immer wieder ins Anthropologische abstürzt. Tania Martini

Der Sog, den der Roman entwickelt, basiert auf dieser Kunst des gezielten Erwähnens und Weglassens. Es geht um eine große Liebe. Die die Erzählerin allerdings in Ausbrüche von Eifersucht treibt. Aber auch er kann sich nicht von ihr trennen und wird handgreiflich. Terézia Mora hat in ihren Darius-Kopp-Romanen sowohl die richtige Distanz als auch die richtige Sympathie für ihren Protagonisten gehalten, so wie im neuen Roman für ihre Erzählerin. Fokke Joel

Der 40-jährige Autor Deniz Utlu ist mit seiner Hauptfigur Yunus unverkennbar auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Zeit, als ein Kind namens Yunus in Hannover noch nicht absehen konnte, dass sein aus Mardin stammender Vater nach zwei Schlaganfällen plötzlich ins Koma fallen würde und dann jahrelang bis zum Tod in einem Locked-in-Syndrom verharren müsste. Deniz Utlu hat ein starkes und bleibendes Stück Prosa geschaffen. Auf Fatma Aydemirs „Dschinns“ (2022) folgt hier mit „Vaters Meer“ der nächste Streich einer neuen Autorengeneration, die mit Selbstbewusstsein und Könnerschaft die Alteingesessenen und deren Sujets herausfordert. Andreas Fanizadeh

Vor dem Zivilisationsbruch, den die Hamas am 7. Oktober in Israel beging, bestimmte die Furcht um die liberale Demokratie den Alltag der meisten Isrealis. Auch der große Holocaustforscher Saul Friedländer sah „Israel am Abgrund“. Sein schmerzvolles Tagebuch gibt einen erschütternden Eindruck von dem politischen Drama, in dem Israel steckt und von dem man noch nicht weiß, wie es enden wird.

Tania Martini

Mischa, der Ich-Erzähler, ist Schriftsteller. Er entstammt einer Familie, die nach Deutschland auswanderte. Maxim Biller surft wild durch die Zeitebenen. „Mama Odessa“ ist eine Geschichte von Einwanderern, die ihre Heimat vermissen, wie die Mutter, oder sich anderswohin sehnen, wie der Vater. Die Menschen sind hier so kompliziert, wie sich manche real existierende Exemplare der Gattung es selbst nicht zu sein erlauben. Ulrich Gutmair

Charlotte Gneuß wiederholt nicht lediglich einmal mehr die Geschichte einer tristen DDR, in der Zwänge die Beziehungen zerrütten. Sie erzählt vor allem von Erwachsenen, die zu schwach sind, ihre Kinder zu schützen. Ihre Figuren hat die Autorin mit souveränem Strich gezeichnet und es bereitet große Freude mitzuverfolgen, wie genau sie das persönliche mit dem politischen Unrecht verwebt. Michael Wolf

Wolfgang Herrndorfs schreiberische Leistung hat darin bestanden, populären Appeal mit künstlerischer Genauigkeit zusammenzudenken. So entstand das bis heute weiterwirkende Werk Herrndorfs, dem Tobias Rüther erhellende Vignetten widmet. Rüther schildert den Lebensweg des hochbegabten Schülers, Kunststudenten, Berliner Bohemiens und schließlich kranken Erfolgsautors mit kultursoziologischer Präzision. Stephan Wackwitz

Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen? Kein Widerspruch: Ob im Rap, im Punk, in der Queer Community, in der Klimabewegung oder unter Postkolonialen – die Au­to­r:in­nen diesese Bandes gehen sehr kenntnisreich, dialogisch und beeindruckend klar dem Antisemitismus gerade dort auf den Grund, wo man ihn nicht unbedingt erwartet. Ein Buch, das einfach alle unter 30 lesen sollten! Und alle anderen am besten auch. Tania Martini

Eine leichte wie lehrreiche und vor allem politische Kulturgeschichte der weiblichen Brust, die von Provokation und Kontrolle, Normativität und Selbstbestimmung erzählt. Und dabei immer wieder Überraschendes zutage fördert. Tania Martini