Sexualtherapeut über Täter-Outing: „Täter sind immer die anderen“

Täter-Outing gilt in linken Kreisen als probates Mittel im Kampf gegen das Patriarchat. Der Hamburger Sexualtherapeut Bernd Priebe rät davon ab.

Plakat "Keine Toleranz für Täter" auf Anti-Rammstein-Demo

Wer den Täter-Begriff nutzt, blendet strukturelle Ursachen aus, meint Bernd Priebe Foto: Fabian Sommer/dpa

taz: Herr Priebe, wie kam es dazu, dass Sie eine Gruppe für Selbstmelder von sexueller Gewalt gegründet haben?

Bernd Priebe: Bei uns sind in den letzten Jahren immer mehr junge Männer aufgetaucht, die vorwiegend in Beziehungen übergriffig geworden sind, und denen wir damals auf der therapeutischen Ebene nichts anbieten konnten. Wir hatten nur Angebote für Personen, die eine Therapie machen mussten, etwa als Auflage nach einem Gerichtsverfahren.

Was war der Anlass dafür, dass die sich an Sie gewandt haben?

Die kamen fast alle aus sozialen Bewegungen, linken Zusammenhängen und waren dort als „Täter“ geoutet worden.

In der linken Szene gilt das Täter-Outing, teils in sozialen Medien oder im Internet, als legitimes Mittel im Kampf gegen Sexismus. Was halten Sie davon?

Ich verstehe den dahinter stehenden Wunsch, Betroffene zu schützen und weitere Opfer zu verhindern. Das ist auch der Ansatz unserer Arbeit. Und natürlich muss jemand, der sexuell übergriffig geworden ist, dafür in Verantwortung genommen werden.

Aber nicht in Form eines öffentlichen Outings?

Ich finde das sehr schwierig, weil den Leuten – meistens ja männlich gelesenen Personen – damit die Chance genommen wird, sich mit ihrem Verhalten auseinanderzusetzen.

Inwiefern?

Wenn jemand öffentlich als „Täter“ dargestellt wird, womöglich noch mit Namen und Foto im Internet, verliert er nicht selten seine Existenz und ist nur noch damit beschäftigt, irgendwie klarzukommen. Das gilt erst recht, wenn sich jemand in linken Strukturen bewegt. Außerhalb der eigenen Szene gibt es da oft nicht viele tragfähige Beziehungen. Wenn man da plötzlich draußen ist, macht das etwas mit den Leuten, das geht bis zu Suizid-Gedanken.

ist Sexualpädagoge und deliktorientierter Tätertherapeut. Er leitet beim Verein „Wendepunkt“ die Hamburger Beratungsstelle für sexuell auffällige Minderjährige und junge Erwachsene sowie die Fachbereiche forensische Versorgung und ambulante Rückfallprophylaxe.

Wird man es je wieder los, wenn man einmal als „Täter“ geoutet wurde?

Nein, nicht nach den Erfahrungen, die die Personen in unseren Gruppen gemacht haben. Das bleibt haften. Nur sehr wenige konnten wieder in ihr altes Leben, die politische Arbeit und den Freundeskreis zurück.

Obwohl sie bei Ihnen waren und an sich gearbeitet haben?

Viele haben gesagt, das würde niemand wahrnehmen. Oder es sei nie genug, was sie tun. Oder: Sie haben sich noch einmal falsch ausgedrückt und sich damit diskreditiert.

Oft bleibt diffus, worin die Tat überhaupt besteht. Es heißt, jemand sei „übergriffig“, „toxisch“ oder einfach nur „ein Täter“. Damit kann alles gemeint sein, von einer unangenehmen Anmache bis zu einer Vergewaltigung.

Ich kenne das aus der Perspektive von Männern, die von so einem Outing betroffen sind. Für die ist es auf jeden Fall ein Problem, dass es überhaupt keine Differenzierung gibt. Bei denjenigen, die freiwillig zu uns kommen – und nicht als Auflage einer Gerichtsentscheidung –, geht es meistens um Grenzverletzungen in einer Beziehung. Die können zwar von einem Gericht teilweise durchaus als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung beurteilt werden, aber die Tragweite ihres Verhaltens ist den Personen erst im Nachhinein bewusst geworden – durch die heftigen Reaktionen ihres Gegenübers oder des Umfelds.

Und mit dem Outing werden sie mit Männern in eine Ecke gestellt, die einer Frau im Park auflauern und sie vergewaltigen.

Ja. Ihr Verhalten bleibt zwar problematisch und lässt sich nicht wegdiskutieren, aber damit sind sie maximal stigmatisiert. Das kann sie so blockieren, dass sie selbst gar nicht hinschauen können, was bei ihnen los ist. Obwohl sie das ja eigentlich wollen.

Richtig stellen können sie das auch nicht, oder?

Nein, wehren kann man sich nicht gegen solche Vorwürfe. Das wird schnell als Leugnen und als Flucht vor Verantwortung ausgelegt.

Und es ist der Fantasie von Dritten überlassen, was die Tat gewesen ist.

Genau – und da wird es schwierig. Solche Informationen bekommen ja nicht nur Leute, die gut und verantwortungsvoll damit umgehen, das lässt sich irgendwann nicht mehr kontrollieren. Wir hatten hier Personen in der Beratung oder in den Selbsthilfegruppen, die wurden von Veranstaltungen oder aus Demos herausgeworfen, von Leuten, die sie kaum oder gar nicht kannten.

Wenn Sie von Übergriffen im Beziehungskontext sprechen: Wo fängt das an? Wenn jemand nicht im Sinne des Konsens-Prinzips vor jeder sexuellen Handlung um Erlaubnis bittet?

Nein, da geht es wirklich um Grenzüberschreitungen, von denen die Leute selbst einsehen, dass das ein Fehlverhalten war. Also jemanden zum Oralsex zu bringen, der oder die das nicht möchte. Wobei es hin und wieder vorkommt, dass auch wir uns nicht sicher sind, ob es um Übergriffigkeit in dem Sinne geht, dass jemand bewusst Grenzen überschreitet.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Wenn nach einer Demo viele Leute in einer Wohnung übernachten, mehrere eng an eng in einem 1,40-Meter-Bett liegen und hinterher jemand sagt, da hat mich wer berührt. Oder jemand hat eine sexuell traumatisierte Person nach Konsens gefragt und die war aber schon im Trauma-Tunnel und er hat das nicht gemerkt. Aber selbst in solchen Fällen sagen die Personen – überwiegend Männer und ein paar Transpersonen – es sei sinnvoll, sich mit ihrer Sexualität auseinandersetzen.

Das gilt ja aber für alle Menschen, oder?

Ja.

Lassen Sie uns bitte einmal über den Täter-Begriff sprechen. Der wird oft mit einer solchen Lust und gerechten Empörung benutzt, dass es mir scheint, als habe er eine Entlastungsfunktion für diejenigen, die ihn im Munde führen.

Ja, Täter sind immer die anderen. Das führt dazu, dass Strukturen, die vielleicht problematisch sind bei mir selbst, in meiner Gruppe oder der ganzen Gesellschaft, nicht in den Fokus kommen. Es gibt einen Sündenbock, der kann abgestraft werden. Diese Individualisierung birgt die Gefahr, dass die strukturellen Ursachen sexueller Gewalt nicht aufgearbeitet werden. Wir verwenden den Begriff auch aus anderen Gründen nicht.

Welchen?

Weil er genau so wie „Opfer“ stigmatisiert und lähmt. Es ist wichtig, zwischen der Tat und der Person zu unterscheiden, wenn ich eine Verhaltensänderung bewirken möchte. Wenn ich Menschen in Gänze zum Täter mache, gibt es keine Spielräume, sich damit auseinanderzusetzen.

Dabei wird genau das von ihnen erwartet. Es gibt einen Leitfaden der postautonomen, bundesweit aktiven Gruppe „Interventionistische Linke“ zum Umgang mit sexueller Gewalt in den eigenen Reihen. Danach sind Dritte sogar verpflichtet, aus politischen Gründen im Kampf gegen das ­Patriarchat, den „Täter“ zur Auseinandersetzung mit seinem Fehlverhalten aufzufordern. Der Leitfaden hat einen erzieherischen Duktus.

Das stimmt. Trotzdem ist es eins der besseren Konzepte, weil es beide Seiten im Blick hat. Die Idee dahinter ist Restorative oder Transformative Justice. Danach soll ein Verbrechen anders aufgearbeitet werden als in der bürgerlichen Gesellschaft, in der es immer diesen Bestrafungsgedanken gibt. Hier soll ein Weg gefunden werden, dass am Ende von einem Prozess alle sagen können: „Es geht mir besser.“ In der Regel sind die übergriffigen Menschen ja nicht übergriffig, weil sie so schlechte Menschen sind, sondern weil etwas schief gelaufen ist in ihrem Leben.

Aber?

Das Problem ist, dass die beschuldigte Person in der Regel mit dem Auftrag der Auseinandersetzung alleine gelassen wird. Es gibt keine verbindlichen Strukturen oder geschützten Räume, in denen auch über eigene Defizite gesprochen werden kann. Das geht nicht mal eben, irgendwie ehrenamtlich nebenbei, sondern braucht Zeit.

Dann können sie ja zu Ihnen gehen.

Aber auch nur, wenn sie in Hamburg leben und unter 26 sind.

Wenn die linke Szene überfordert ist mit der Aufarbeitung sexueller Gewalt, ist es dann besser, sie staatlichen Institutionen zu überlassen? Da geht ja auch immer noch einiges schief und es kommt nur in einem Bruchteil der angezeigten Fälle zur Verurteilung.

Ich würde es so sagen: Es gibt auf allen Ebenen großen Handlungsbedarf und die linke Szene ist davon nicht ausgenommen.

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