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Hochbegabung: Sprungbrett oder Stolperstein?

Im staatlichen Schulsystem ist das Thema Hochbegabung inzwischen angekommen, während die Waldorfpädagogik sich der Herausforderung nur zögernd öffnet. Eine Beratungsstelle weist Lösungswege

Ein bis zwei Prozent der Schü­le­r:in­nen eines Jahrgangs gelten als „hochbegabt“. Nachweis hierfür ist meist ein IQ von über 130. Bei Päd­ago­g:in­nen und Lehrkräften ist das Bewusstsein für die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder gewachsen. Spezielle Fördermethoden und -programme gehören in vielen Schulen nun zum Standard, Beratungsstellen und Institute dienen als Anlaufstellen für Eltern, Leh­re­r:in­nen und Erzieher:innen.

Die Waldorfpädagogik hingegen tut sich schwer mit dem Thema. Woran liegt das? „Einer der Grundsätze in Rudolf Steiners Lehre ist die Vermeidung der zu frühen Förderung der kognitiven Kräfte eines Kindes“, erklärt Birgit Wegerich-Bauer. „Wird aus dieser Sicht Intelligenz zu früh gefördert, lässt dies dem ätherischen Organismus nicht die nötige Zeit für Wachstum und Entwicklung.“ Die Diplom-Waldorfpädagogin und promovierte Kunsthistorikerin, die lange als Kunstlehrerin gearbeitet hat, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema und vermittelt als Dozentin angehenden Lehrkräften die wichtigsten Grundlagen. Werde Hochbegabung nicht gefördert, kann dies aus ihrer Sicht Steiners Sorge ins Negative kehren und die Gesamtkonstitution des hochbegabten Kindes nachhaltig schwächen. Gemeinsam mit der Sozialpädagogin Kirsten Heberer hat sie für Eltern und Päd­ago­g:in­nen die Beratungsstelle zur Hochbegabung und Hochsensibilität in der Waldorfpädagogik gegründet.

Es sei zu kurz gedacht, allein die kognitive Hochbegabung in den Fokus zu rücken – auch Hochsensibilität und Hochkreativität, die häufig gemeinsam auftreten, gehören für Wegerich-Bauer dazu. Gemeinsam sei fast allen diesen Kindern eine besondere Art der Wahrnehmung und spezielle Denkstrukturen. „Durch Einbeziehung der drei Seelenglieder – Empfindungsseele, Verstandesseele und Geistesseele – geht Waldorfpädagogik von einem erweiterten Hochbegabungsbegriff aus“, so Wegerich-Bauer. Der kognitiven Intelligenz, repräsentiert durch die Verstandesseele, würden Empfindungsseele (Hochsensibilität/Hochsensitivität) und Geistesseele (hohes Bewusstseinsempfinden) zur Seite gestellt. In allen Bereichen brauchen die Kinder eine adäquate Förderung.

Die besonderen Strukturen der Waldorfschulen können bei einer solchen Förderung sowohl Probleme als auch besondere Chancen bieten. So könne das sehr langsame Lerntempo der ersten Grundschuljahre für viele Hochbegabte zur Qual werden. Nicht wenige Schü­le­r:in­nen wechseln in dieser Phase dann doch auf eine Regelschule. Umgekehrt können aber hochbegabte Kinder in den höheren Klassen eindeutig von der Vielseitigkeit des Lehrplans profitieren, der sehr viel flexibler sei als an Regelschulen und offener für individuelle Interessen und Herangehensweisen. „Da gibt es nicht den einen ‚richtigen‘ Weg“, erklärt die Pädagogin.

Wichtig sei es, die Sensibilität der Lehrkräfte zu schärfen, damit diese eine besondere Begabung wahrnehmen. Probleme und auffällige Verhaltensweisen, die aus einer Unterforderung entstehen können, werden oftmals falsch eingeordnet, die wirklichen Ursachen daher nicht erkannt. Cordula Rode