Der getackerte Bruderkuss

Wanderausstellungen, die allabendlich von einem Wohnzimmer zum nächsten zogen und stets verschwunden waren, wenn die Polizei eintraf: Das Neue Museum Weserburg zeigt polnische Alternativ-Kunst und Filme der 70er und 80er

„Die Frage war: Was funktioniert auch, wenn man kein polnisch kann?“

Der erste polnische Künstler im Weltraum war Adam Rzepecki – jedenfalls wenn man seiner Collagen-Folge „My first steps into space“ glaubt. Sie erzählt, wie der Künstler auf den Wipfel eines Baumes klettert, bis dieser sich herunter zur Erde biegt. Anschließend lässt sich Rzepecki durch die Spannung des Stammes ins All katapultieren. Irgendwann in den siebziger oder achtziger Jahren ist diese undatierte Arbeit entstanden. Damals konnten die polnischen Künstler der alternativen Szene von freien Reisen – und freien Ausstellungen – nur träumen.

„Art...is never wrong“ rief der Künstler Zdzislaw Jurkiewicz diesem repressiven Klima in Polen entgegen. Mit seiner Parole ist jetzt eine übersichtliche, aber sehenswerte Ausstellung im Neuen Museum Weserburg überschrieben. Gezeigt werden Experimentalfilme des „Film Form Workshop“, gegründet 1970 im Umkreis der Hochschule in Lódz. Dazu gibt es eine Fülle von Mail-Art-Objekten, Künstlerzeitschriften, Plakaten, Graphiken und Fotografien aus dem Umfeld des Workshops zu sehen. Diese Arbeiten stammen aus dem Bestand des museumseigenen Studienzentrums für Künstlerpublikationen.

„Bei der Zusammenstellung haben wir uns gefragt: Was funktioniert auch, wenn man kein polnisch kann?“, so Anne Thurmann-Jajes, Leiterin des Studienzentrums und Kuratorin der Ausstellung. Eine Fotografie von Breschnew und Honecker, deren Bruderkuss mit zwei Tackerklammern bekräftigt wurde, erschließt sich auch ohne Worte. Allerdings sind nur wenige der Ausstellungsstücke so unmissverständlich. Denn die unabhängige Kunstszene war dem Staat grundsätzlich verdächtig. Wer sich nicht der herrschenden Kunstdoktrin des „Sozialistischen Realismus“ anschloss, befand sich unter scharfer staatlicher Beobachtung und war durch Zensur bedroht.

Man behalf sich mit „Wanderausstellungen“, die allabendlich von einem Wohnzimmer zum nächsten zogen und stets verschwunden waren, wenn die Polizei eintraf. Plakate mussten genehmigt werden und wurden nach der Zensur mit unauffälligen Zusätzen bedruckt. Mail-Art-Objekte rutschten durch die Postkontrollen, weil sie für den flüchtigen Blick wie Kinderzeichnungen aussehen konnten. Stempel, die aus Radiergummis geschnitten wurden, Matrizen-Druck, übermalte Fotokopien – die damals erzwungene Armut der technischen Mittel wirkt heute angenehm leicht und klar.

Auch die Filme in der Ausstellung sind geprägt von Reduktion. Kazimierz Bendkowski erzeugt in seinem wortlosen Film „An Area (Obszar)“ von 1973 die Spannung eines Kurz-Krimis – allein durch den Wechsel zwischen fast eingefrorenen Momentaufnahmen und Szene-Schnipseln von hastigen Bewegungen mysteriöser Personen in einem Abbruchhaus.

Der vielleicht eindringlichste Film der Schau ist aber Józef Robakowskis „View from my window“. Von 1978 bis 1999 hat der Filmemacher die Ereignisse auf dem Parkplatz vor dem Hochhaus aufgenommen, in dem er wohnt. Die drastischen Veränderungen in Polen im Lauf der Jahre spiegeln sich dort in kleinen Veränderungen wieder – der Nachbar wird älter und hat einen neuen Hund, nachts häufen sich die Polizei-Einsätze, die Maikundgebung ändert ihre Route, schließlich parkt ein Porsche vor dem Haus. Robakowski kommentiert diese Ereignisse aus dem Off. Aber auch für diesen Film muss man kein polnisch können: Er wurde auf englisch synchronisiert. Peter König

Bis 4. September