Ruhe nach dem Sturm

Im Westjordanland verhalten sich palästinensische Gruppen derzeit verhältnismäßig ruhig. Die Autonomiebehörde kooperiert sogar mit Israel. Doch viele Sied­le­r:in­nen rüsten massiv gegen Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen auf – verbal, aber auch mit Waffen

Foto: Die meisten Proteste im Westjordanland sind derzeit verboten. Ramallah am Montag Foto: Issam Rimawi/Anadolu/getty images

Von Judith Poppe

Normalerweise ist Guy Hirschfeld im Westjordanland aktiv. Der jüdisch-israelische Besatzungsgegner und Aktivist fährt regelmäßig ins Jordantal, um palästinensische Hirten gegen Siedlerangriffe zu verteidigen. In diesen Tagen des Krieges fährt er nicht. Stattdessen demonstriert er vor dem Armeehauptquartier in Tel Aviv gegen den Krieg in Gaza. Trotz allem. Er will die Israelis daran erinnern, dass jüdische Israelis und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen auch nach dem markerschütternden Terrorangriff der Hamas und dem Krieg miteinander leben müssen, auch wenn sich das derzeit die wenigsten vorstellen können. „Wir können und müssen die Bodenoperation stoppen“, schreibt er auf Facebook: „Rache ist kein Arbeitsplan.“

Alle Augen sind derzeit auf den Süden von Israel und auf Gaza gerichtet. Doch auch der Norden bereitet vielen Sorge, also ein potenzieller Einstieg der vom Iran gelenkten Hisbollah vom Libanon aus. Seit Tagen heizt sich diese Front immer weiter auf.

Die radikalislamische Hamas wurde kurz nach Beginn der ersten Intifada 1987 gegründet und ist ein Ableger der Muslimbruderschaft. Sie besteht aus den paramilitärischen Kassam-Brigaden, einem Hilfswerk und einer politischen Partei. Ihr programmatisches Ziel ist die Zerstörung Israels und die Errichtung eines islamischen Staates auf dem Gebiet des historischen Mandatsgebiets Palästina. Israel, die EU und die USA stufen sie als Terrororganisation ein. Finanzielle Mittel bezieht sie überwiegend aus Iran und durch private Spender aus arabischen Staaten und dem Westen. (taz)

Doch Hirschfelds Blick richtet sich auch auf das Westjordanland. „Israel drängt die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in die Ecke und lässt sie völlig schutzlos zurück. Wir wissen, dass so etwas in der Regel sehr schlecht endet.“

Racheakte von Sied­le­r*in­nen stehen derzeit auf der Tagesordnung. Einige Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen hätten ihre Häuser nach Warnungen von Sied­le­r*in­nen verlassen. Rund 50 sind in der Woche nach dem Terrorangriff der Hamas getötet worden, einige von ihnen durch Kugeln des israelischen Militärs, andere von Siedler*innen.

„Wir können und müssen die Bodenoperation stoppen. Rache ist kein Arbeitsplan“

Guy Hirschfeld, israelischer Besatzungsgegner

Auch die Friedensorganisation Peace Now berichtet von Dutzenden Übergriffen auf Palästinenser*innen. Bei dem schwersten Vorfall im Dorf Qusra, südlich von Nablus, wurden laut ihren Angaben vier Palästinenser getötet und neun verletzt, nachdem Siedler in das Dorf eingedrungen waren und das Feuer eröffnet hatten. Aus einem weiteren Dorf in der Nähe von Qalqilia entführten Sied­le­r*in­nen einen Palästinenser in einen Außenposten. Er wurde später von der israelischen Armee befreit.

Mit vollem Namen nennt sich die Gruppe Islamischer Dschihad in Palästina (IDP). Sie wurde im Jahr 1981 von ehemaligen Mitgliedern der Muslimbruderschaft etabliert. Sie lehnt die Oslo-Abkommen ab und kämpft – wie die Hamas – für einen islamischen Staat Palästina. Die Gruppe ist im Westjordanland , vor allem in und um die Stadt Dschenin, und dem Gazastreifen aktiv. Sie wird ebenfalls von Iran unterstützt und gilt vielen westlichen Nationen als Terrororganisation. Im Krieg gegen Israel im Oktober 2023 kämpft sie an der Seite der Hamas und soll selbst 30 Geiseln gefangen halten. (taz)

In der Gegend von Nablus kursiert ein Flyer geschrieben von Siedler*innen, adressiert an die „Ratten und Maulwürfe von Nablus“. Darin warnen sie, dass sie mit Waffen und allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auf die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen warten und ohne rote Linie und Gnade durchgreifen werden, wenn sich einer nähere. „Ich vergesse nicht, was in Gaza passiert ist“, schreibt Hirschfeld auf Facebook: „Aber ich will nicht wie sie sein.“

Die Stimmung ist auch im Westjordanland denkbar angespannt. Und doch: Militante palästinensische Gruppierungen halten sich bislang zurück. Vereinzelte Anschläge auf Israelis gab es in den letzten Tagen, doch eine große Mobilisierung durch islamistische Organisationen wie die Hamas und den Islamischen Dschihad oder durch jüngere, kleinere Zusammenschlüsse wie den Lion’s Den aus Nablus bleibt aus.

Die schiitische, dem Iran eng verbundene Organisation ist gegliedert in einen Partei- und einen Milizen-Flügel. Ihr arabischer Name Hizb’Allah bedeutet auf Deutsch „Partei Gottes“. Im Libanon sitzt sie im Parlament und stellt Minister in der Regierung. Sie ist vor allem im Südlibanon, der östlichen Bekaa-Ebene und den südlichen Vororten der Hauptstadt Beirut vertreten. Ihren heutigen Erfolg verdankt die Hisbollah ihrem Guerillakrieg, der im Jahr 2000 zu einem Rückzug Israels aus dem Südlibanon nach 15 Jahren Präsenz führte. Sie greift Israel immer wieder von Norden aus an, auch im Oktober 2023. (taz)

Für Roni Shaked, Nahostexperte am Harry S. Truman Institute für Friedensentwicklung in Jerusalem, liegt die Antwort auf der Hand: Israel weiß, wie prekär die Lage ist. Die Sicherheitsmaßnahmen laufen auf Hochtouren. Die israelische Armee blockiert in Zusammenarbeit mit der palästinensischen Autonomiebehörde Knotenpunkte, riegelt Ortschaften ab. Viele Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen dürfen ihre Städte und Dörfer nicht verlassen. Zahlreiche Straßen sind gesperrt. Zwar finden hier und dort Demonstrationen statt, sind aber in der Regel verboten. „Die Hamas weiß, dass sie jetzt der Feind Israels schlechthin ist“, erklärt Shaked: „Sie weiß, wenn etwas in Dschenin oder in irgendeinem kleinen Dorf passiert, wird Israel auch im Westjordanland furchtbare Maßnahmen ergreifen.“

Die Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine, daraus leitet sich auch das Akronym PFLP ab) wird dem säkularen, linken Flügel palästinensischer Gruppen zugeordnet und wurde 1967 von einem palästinensischen Christen mit marxistischer, panarabischer Ausrichtung gegründet. Auf ihr Konto gehen mehrere Anschläge und Entführungen auf und von Flugzeugen, vor allem in den 1960er und 70er Jahren, darunter die der „Landshut“. Ihre Unterorganisation Abu-Ali-Mustafa-Brigaden soll auch am Angriff im Oktober 2023 beteiligt sein. (taz)

Und so halten die Hamas und die anderen Organisationen im Westjordanland bislang die Füße still. Dabei sind die Waffenlager in den Zentren des palästinensischen Terrors, in den Flüchtlingslagern von Dschenin und Nablus, laut Medienangaben bis zum Anschlag gefüllt. Viele der Waffen kommen aus Iran, der konnte sie in den letzten Jahren durch das Jordantal dorthin schmuggeln.

Die Fatah ist eine nationalistische Partei, die mehrere bewaffnete Flügel unterhält. Sie ist Teil der sogenannten Palästinensische Befreiungsorganisation, einer Dachorganisation verschiedener Fraktionen, die sich für einen Staat Palästina einsetzen – politisch und mit Gewalt. Die Fatah ist die größte von ihnen und stellt mit ihrem Vorsitzenden Mahmud Abbas den Präsidenten der Autonomiebehörde. Dass Fatah-Führer Jassir Arafat 1993 das erste Oslo-Abkommen unterzeichnete und damit Israel anerkannte, werten einige Palästinenser bis heute als Verrat der Fatah. (taz)

Shaked sieht, dass die Hamas durch ihren Terrorangriff an Popularität gewonnen hat. Doch der Jubel der ersten Tage auf palästinensischer Seite, meint Shaked, galt in erster Linie der Tatsache, dass die Hamas die vermeintlich hochgesicherte Grenze nach Israel und die Belagerung Gazas durchbrechen konnte. Doch nun, so Shaked, sähen die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen die Antwort Israels auf den grausamen Terrorangriff. Sie blickten nun auf die Bevölkerung in Gaza – und machen für die Reaktion nicht nur Israel verantwortlich, sondern auch die Hamas.

Die Höhle der Löwen (Lion’s Den)ist die wohl jüngste palästinensische bewaffnete Gruppe. Sie erstarkte im Sommer 2022 und ist nach dem von Israel getöteten Milizenführer Ibrahim al-Nabulsi, Spitzname „der Löwe von Nablus“, benannt. Ihren Hauptsitz hat die Terrormiliz laut Berichten in der Stadt Nablus im Westjordanland. Sie steht der Fatah kritisch gegenüber und erhält Gelder von der Hamas. Sie ist vor allem bei jungen, radikalen Palästinensern angesehen. Die Organisation nutzt soziale Medien, vor allem TikTok und Telegram, um ihre Angriffe etwa auf jüdische Siedler publik zu machen. (taz)

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas trägt zu der relativen Ruhe in Form der Sicherheitskooperation mit Israel bei. Einfluss auf den palästinensischen Diskurs hat der 88-Jährige, der zum letzten Mal bei den Wahlen im Jahr 2005 in seinem Amt bestätigt wurde und mit autoritärer Hand regiert, jedoch kaum. Und so kümmert es die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen weder, dass er am Sonntag den Terrorangriff der Hamas verurteilte und sagte, dass die Aktionen der Hamas „nicht das palästinensische Volk repräsentieren“, noch dass diese Äußerung kurz darauf aus einem Bericht der Nachrichtenagentur Wafa, des Sprachrohrs der Palästinensischen Autonomiebehörde, entfernt wurde.

Eine dritte Intifada erwartet Shaked derzeit nicht – nicht jetzt. Seine Sorge richtet sich weiterhin auf den Norden und die Frage, ob die vom Iran gelenkte Hisbollah im Libanon in den Krieg einsteigt.