Wohnen, Trinken, Arbeiten
und Leben

Unsere Au­to­r*in­nen haben sich drei Projekte in Norddeutschland angeschaut, die Utopien im Kleinen darstellen. Eine Stadtteilkantine in Hamburg, die günstiges Essen und einen Ort der Begegnung bietet. Ein Hausprojekt in Bremerhaven, in dem die Werkstätten entstehen, die die Menschen dort brauchen. Und eine Kneipe, die bald denen gehören soll, die darin am Tresen sitzen

Eine Rutsche im Treppenhaus. Bevor es mit den Bauarbeiten losging, sprühten die Menschen von Werk e.V. aus Bremerhaven ihre Ideen an die Wände. Foto: Navigo

Die Kneipe weiterdenken

Montags hat das Horner Eck geschlossen. In der urigen Eckkneipe, die mitten im für seine Kultur- und Kneipenszene bekannten Bremer Steintorviertel liegt, ist es dennoch belebt. Montags trifft sich nur das Team des Horner Ecks in der Kneipe. An den meisten anderen Abenden der Woche sitzen oft an jedem der dunklen Holztische Gäste, die Biere und andere Getränke trinken, schnacken und rauchen.

Die seit 2019 genossenschaftlich geführte Kneipe ist über die letzten Jahre ein Anziehungspunkt für alle Alters­klassen geworden. Studierende und ältere Stammgäste kommen bei den Konzerten und Ausstellungen, die hier stattfinden, zusammen.

Derzeit gibt es für das Team besonders viel zu besprechen. Der Eigentümer des Hauses, in dem die Kneipe liegt, will es verkaufen. Das bedeutet Ungewissheit. „Jeder neue Käufer kann mit dem Haus machen, was er will. Wir könnten als kleine Eckkneipe nicht die Miete zahlen, die hier rauskommen würde, wenn das Haus gewinnbringend verkauft wird“, sagt Lilja Girgensohn. Sie ist Teil der Horner-EckHaus-Genossenschaft. Die Belegschaft der Kneipe und einige Stammgäste gründeten diese, um der Ungewissheit zuvorzukommen und das Haus nun selbst zu kaufen.

Die etwa 15 jungen Menschen der Hausgenossenschaft suchen seit Frühling dieses Jahres Un­ter­stüt­ze­r*in­nen, die sich finanziell beteiligen, um den Kauf zu ermöglichen. Mehr als die Hälfte der benötigten 500.000 Euro sei so bereits gesammelt worden, sagt Genossenschaftsmitglied ­Leonie Schubert, die lange auch im Horner Eck gearbeitet hat. Es brauche aber noch die Beteiligung vieler weiterer Menschen, denen das Viertel, so wie es jetzt ist, wichtig sei, um das Haus zu erhalten, sagt Schubert.

Die Genossenschaft will Haus und Kneipe nach dem Kauf auch weiterentwickeln. Gemeinsam will man den Traum eines eigenen, selbstverwalteten Raums erfüllen und das Horner Eck zu einem generationsübergreifenden und barrierearmen Begegnungsort machen. Über der Kneipe soll Wohnraum mit günstigen Mieten entstehen.

Die Kneipe selbst könnte um einen Veranstaltungsraum erweitert werden und dadurch als Kunst- und Kulturraum wachsen, der auch tagsüber genutzt werden könnte. „Wir hätten oben außerdem noch ein Büro und könnten einen Schlafraum für Künst­le­r*in­nen einrichten. Wir könnten unser Residenzprogramm weiterentwickeln“, sagt Schubert.

Weitere Ideen sind Lesungen und die Einrichtung von Proberäumen. Zentral sei jedoch, langfristig bleiben zu können und die traditionelle Kneipe, und damit ein Stück Viertel, zu erhalten. „An den unmittelbaren Strukturen würde sich nicht viel ändern, denn wir sind schon jetzt eine basisdemokratische Kneipengenossenschaft“, sagt Girgensohn. „Mit einem Haus, das uns gehört, sind wir viel freier darin, diesen Experimentierraum, der das Horner schon immer war, weiterzuführen.“ Emmy Thume

Im Wohnzimmer des Stadtteils

Hans-Werner Diez sitzt an der langen „Kommunikationstafel“ in der Mitte des Speisesaals. Die ist als Kontaktpunkt mit dem Tresen einer Bar vergleichbar. Unter dem Tisch liegt Yorkshire Terrier Conny, die an diesem Tag 15 Jahre alt wird. Diez hat deshalb einen Spiralgugelhupf nach Rezept der Backsendung von Franz Ruhm aus dem Jahr 1959 gebacken.

Der 66-jährige Diez ist Rentner und kommt seit Jahren aus dembenachbarten Hamburger Stadtteil Eimsbüttel zum Mittagstisch in die La Cantina.­ Das sei schöner als allein zuhause zu kochen: „Nette Gesellschaft, schöne Atmosphäre sowieso und das Essen ist gut.“

La Cantina ist eine Stadtteilküche im zunehmend beliebteren Hamburger Stadtteil Ottensen. „Ziel war es, alle Menschen im Stadtteil wortwörtlich an einen Tisch zu bringen und über das gemeinsame Essen eine Verbindung herzustellen“, sagt Nicola Pantelias vom Verein Koala, der die Küche vor über 25 Jahren gründete.

Von Montag bis Freitag gibt es einen Mittagstisch mit einem regulären und einem um rund 50 Prozent ermäßigten Essenspreis von dann 3,20 Euro. Dieser Rabatt wird bis zu einem Monatseinkommen von 1.410 Euro gewährt. Das Küchenpersonal, das über das Jobcenter vermittelt wird, versorgt täglich etwa 100 Menschen, wovon seit der Pandemie nur noch ein Zehntel den vollen Preis bezahlt. Nachmittags wird überschüssiges Essen zu einem Preis von 50 Cent an etwa ebenso viele Bedürftige gegeben, La Cantina wird dann zur Suppenküche.

Die langjährigen Freunde Jens Laube und Thomas Carstens haben den Mittagstisch vor ungefähr zwei Monaten für sich entdeckt und sind seitdem Stammgäste. Während Laube dafür aus Alsterdorf im Hamburger Norden anreist, wohnt Carstens in der Umgebung. „Für das Geld kann man schon nicht mehr selbst kochen“, sagt der 56-jährige Carstens mit Blick auf die steigenden Lebensmittelpreise. Das Personal sei top und schmecken tut es den beiden auch: Bei Carstens liegen gebratene Auberginenscheiben neben den Salzkartoffeln. Dazu ein Joghurtdip und Gurkensalat. „Nicht eine Gräte“ lobt Laube sein Seelachsfilet, das in ­Petersiliensauce schwimmt. Gegenüber reicht eine Dame ihre mitgebrachte Zitrone an ihre Tischnachbarin. Nach dem Essen gehen Carstens und Laube eine Zigarette rauchen und machen einen Spaziergang durch das Viertel.

Immer wieder war La Cantina finanziell bedroht. Derzeit gibt es laut Pantelias Entgeltzuschüsse vom Jobcenter sowie eine Förderung über den Europäischen Sozialfonds; die Suppenküche wird maßgeblich von der Stiftung Reimund C. Reich gestützt. Steigende Kosten und ausbleibende Spenden der Tafel machen das Projekt weiter zu einem „Seiltanz“, wie Pantelias es formuliert.

Die Stücke des Spiralgugelhupfs verteilt Diez anlässlich des Geburtstags seines ­Hundes Conny auf kleinen ­Tellern aus der Küche. Die meisten der übrigen Gäste nehmen das Dessert dankend an, einige gehen im Anschluss zu Conny und streicheln sie. Sven Bleilefens

Aufbruch gegen den Leerstand

Entlang der Bremerhavener Ausgehmeile „Alte Bürger“ reiht sich ein Gründerzeitbau an den nächsten. Kneipen und Restaurants prägen hier die Ladenzeilen. Hinter einem Baugerüst verbirgt sich das „Werk“. Ein Hausprojekt.

1.100 Quadratmeter Fläche auf fünf Etagen sollen hier zu einem Ort erwachsen, der sich nach dem Bedarf der BürgerInnen richtet: Wohnungen, Werkstätten, Veranstaltungsräume und Gastronomie entstehen. Wer Platz für Hobby, Kunst oder Arbeit sucht, kann eine Heimat für sein Projekt finden. Wissen teilen und Neues erschaffen – so der Plan. Schon jetzt gibt es ein Film- und ein Musikstudio, eine Nähwerkstatt und Kulturveranstaltungen. Das Werk wächst.

Fiona Brinker sitzt neben ­Jonas Hummel im Eingangsbereich des Gebäudes. Beide engagieren sich im Vorstand von Werk e.V. Anders als in anderen Städten sei es in Bremerhaven weniger ein Problem, Flächen in guter Lage zu finden, als genügend Leute, die sie gestalten, sagt Brinker.

Bremerhaven wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch einen anhaltenden wirtschaftlichen Abschwung geprägt. Das Pro-Kopf-Einkommen ist verglichen mit anderen deutschen Städten niedrig, die Arbeitslosigkeit hoch.

Elf Jahre stand das Haus leer, als die Städtische Wohnungsgesellschaft 2019 BürgerInnen einlud, Ideen für das Projekt zu sammeln. In bunten Farben schrieben sie ihre Vorschläge an die Wände des Gründerzeitbaus. Seitdem verschwinden die Worte mehr und mehr hinter nachhaltigem Lehmputz und frischer Farbe und rücken als Fundament des ­Projekts in den Hintergrund. Aus Visionen wird langsam Wirklichkeit.

Seit gut drei Jahren ist viel passiert und dennoch weniger vorangegangen als anfangs gedacht. Das Werk kämpft mit finanziellen Herausforderungen und einer Flut von Aufgaben, für die zu wenige Ehrenamtliche bereitstehen: Planen, Helfende mobilisieren, Bürokratie. Es bräuchte mehr Kräfte, die sich auf einer organisatorischen Ebene einbringen. „Es gibt eine ­Lücke zwischen einer einfachen Konsumhaltung kultureller Angebote und darin, das ­Angebot selbst zu schaffen“, sagt Jonas.

Finanziell steht ein großer Schritt bevor: Die Sparkasse hat dem Werk einen Kredit bewilligt, der es zulässt, das Gebäude nach eineinhalb Jahren der mietfreien Nutzung von der Stadt zu kaufen, die ersten beiden Stockwerke zu sanieren und das Projekt weiterzuentwickeln. Levin Meis