Arbeitskampf im Einzelhandel: Tarifverhandlungen des Grauens

Arbeitskräftemangel, Inflation, Konsumflaute: Im Einzelhandel fallen gerade alle Krisen zusammen. Doch auf Arbeitgeberseite tut sich wenig.

Angst vor Reallohnverlust: Beschäftigte beim letzten Warnstreik am 30. Oktober Foto: Florian Boillot

BERLIN taz | Kurz vor dem Weihnachtsgeschäft spitzt sich der Tarifkonflikt im Einzel- und Großhandel weiter zu. Nachdem es in den Verhandlungen in den vergangenen sechs Monaten kaum Bewegung gegeben hatte, sagte der die Arbeitgeberseite vertretende Deutsche Handelsverband (HDE) überraschend alle künftigen Verhandlungstermine ab. Auch in Berlin und Brandenburg liegen die Verhandlungen damit auf Eis. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi rief deshalb ab Freitag zu einem viertägigen Warnstreik auf.

„Die Situation ist dramatischer denn je“, berichtet Katja Vaternam der taz. Die Betriebsrätin arbeitet in einer Berliner Kauflandfiliale; seit 20 Jahren ist sie im Einzelhandel beschäftigt. Über 90 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten Teilzeit, viele ihrer Kol­le­g:in­nen müssten in mehreren Jobs arbeiten. „Beschäftigte haben schon immer von der Hand in den Mund gelebt, aber jetzt wissen viele nicht mehr, wie sie ihre Lebenshaltungskosten zahlen sollen.“

Auch in ihrem Markt bestehe der Großteil der Belegschaft aus alleinstehenden und alleinerziehenden Frauen, die Preissteigerungen würden sie besonders hart treffen, erklärt Vaternam. Dazu käme der Arbeitskräftemangel, der die Beschäftigten noch weiter belaste. Viele würden die Branche daher verlassen. „Die Arbeit ist nach wie vor da, nur bleibt sie auf dem Rücken der Kollegen liegen“, so Vaternam.

„Wir verlangen endlich ein Angebot, das für die Beschäftigten keinen Reallohnverlust bedeutet“, fordert Gewerkschaftssekretärin Conny Weißbach. Das in den vergangenen beiden Jahren durch die Inflation verlorene Geld werde auch mit dem neuesten Angebot bei weitem nicht ausgeglichen. Verdi fordert unter anderem 2,50 Euro mehr Lohn pro Stunde. Bislang war die Arbeitgeberseite in Berlin nur zu einer Erhöhung von 90 Cent für dieses Jahr bereit. Seit diesem letzten Angebot im Juli haben sich beide Seiten in den Verhandlungen kaum aufeinander zubewegt.

Ausgehölter Tarifvertrag

„Dass die Tarifverhandlungen so haken, habe ich in 30 Jahren noch nicht erlebt“, sagt Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Berlin-Brandenburg, der taz. Verantwortlich macht er dafür naturgemäß die Gegenseite. Die Forderungen der Gewerkschaft seien „in Zeiten von Pleiten und sterbenden Innenstädten“ deutlich überzogen. Angesichts des sinkenden Konsumklimas sei einfach nicht mehr leistbar. „Wenn wir besser zahlen könnten, würden wir das tun.“

Weißbach vermutet hinter der Härte der Arbeitgeberverbände jedoch den Versuch, die Funktion des Tarifvertrags zu unterhöhlen. Denn statt tariflich festgelegter Lohnsteigerungen boten diese vor allem freiwillige Einmalzahlungen in Form von Inflationsausgleichsprämien an. „Wenn bei einem Tarifabschluss die tarifierten Löhne unterhalb dessen liegen sollten, was Unternehmen tatsächlich zahlen, verliert der Tarifvertrag seine Funktion.“

Statt weiterer Verhandlungsrunden fordert der Handelsverband ein Spitzengespräch mit der Verdi-Fachbereichsleitung auf Bundesebene, um ein neues Verhandlungsformat zu erarbeiten. Während Busch-Petersen die Absage der Verhandlungen als „deutliches Signal“ bezeichnet, sieht Verdi-Gewerkschaftssekretärin Conny Weißbach in dem Schritt eine „beispiellose Eskalation“ und einen „Kulturbruch“.

Derzeit finden in allen Bundesländern parallel Tarifverhandlungen im Einzel- und Großhandel statt. Weil die Verhandlungen unabhängig voneinander sind, wäre der erste Tarifabschluss tonangebend für die übrigen Auseinandersetzungen.

Weihnachtsgeschäft in Gefahr

Hinter der Forderung der Arbeitgeberverbände nach einem Spitzengespräch sieht Verdi einen Versuch, die regionalen Verhandlungen auf Bundesebene zu bewegen. „Zentralisierte Verhandlungen schwächen die Gewerkschaften“, erklärt Gewerkschaftssekretärin Franziska Foulong. „Darauf werden wir uns niemals einlassen.“

Derweil versucht die Gewerkschaft, mit einem erneuten Warnstreik den Druck zu erhöhen. Beschäftigte im Einzel- und Großhandel streiken zusammen. Betroffen sind unter anderem Rewe, Kaufland, Edeka sowie deren Logistikpartner. Zu Arbeitsniederlegungen kommt es außerdem bei Ikea und im Pharmagroßhandel. „Man muss damit rechnen, dass einige Kassen geschlossen sind und einige Regale leer bleiben“, schätzt Foulong die Auswirkungen des Streiks ein. Arbeitgebervertreter Busch-Petersen gibt sich hingegen gelassen: „Wir nehmen die Streiks sehr ernst, aber wir werden unseren Versorgungsauftrag sicherstellen.“

Sollte sich auch nach dem viertägigen Streik am Wochenende keine Lösung anbahnen, „werden die Streiks fortgeführt und ausgeweitet“, warnt Foulong. Ziel sei es dann, auch das Weihnachtsgeschäft, die traditionell umsatzstärkste Zeit im Einzelhandel, zu treffen. „Das Weihnachtsgeschäft steht vor der Tür, wir auch.“

Nicht beteiligen werden sich die Beschäftigten von Galeria-Karstadt-Kaufhof. Nachdem das letzte Insolvenzverfahren erst im Mai beendet wurde, bangen die Unternehmenden angesichts der Krise des Mutterkonzerns Signa wieder mal um ihre Zukunft. Unklar ist derzeit, ob Signa die zugesagten Investitionen tätigen kann. Einbrüche im Weihnachtsgeschäft träfen den Konzern besonders schmerzhaft.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.