Krieg im Nahen Osten: Menschlich werden

Hass und Rachelust lenken heute die Herzen im Nahen Osten. Dabei schien ein Frieden in der Vergangenheit wiederholt greifbar nah zu sein.

Ein weinendes Kind hält sich die Hände vor das Gesicht

Chan Yunis: Kind weint um seinen Vater, der bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde Foto: Mohammed Salem/Reuters

Was ist das nur für eine Blindheit? Viele Un­ter­stüt­ze­r*in­nen der Palästinenser haben die infamen Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober einfach nicht gesehen. Sollten sie sie doch gesehen haben, haben sie sich oft gesagt, dass es die Besetzung und die sinnlose Blockade des Gazastreifens war, die die Angreifer zu wilden Tieren werden ließ.

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Umgekehrt sehen viele Un­ter­stüt­ze­r*in­nen der israelischen Seite nicht die Bilder der Kinder, deren Körper aus den Trümmern des bombardierten Flüchtingslagers Dschabalia gezogen wurden. Der makabre Zähler tickt Stunde um Stunde und heizt eine unaufhaltsame tödliche Spirale an, die zu einem regionalen Krieg zu eskalieren droht.

Sinnlos und dumm wäre der Versuch, die Gräueltaten gegeneinander aufzurechnen. Vielmehr gilt es jetzt, den geistigen Eisernen Vorhang zu durchbrechen, der sich über die Köpfe gelegt hat, einen Vorhang, der verhindert zu sehen, zu verstehen, mitzufühlen … Es gilt, wieder menschlich zu werden. Solange auf beiden Seiten Hass und Rache die Oberhand haben, erscheint das als aussichtsloses Unternehmen. Umso dringlicher braucht es ein Wort der Wahrheit, das beide Seiten gleichzeitig in den Blick nimmt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte der linke österreichische Journalist Theodor Herzl, der als Korrespondent in Paris über die Dreyfus-Affäre berichtere, das Ausmaß des französischen Antisemitismus. Er kam zu dem Schluss, dass nur ein eigener Staat die Juden würde schützen können.

Während die israelische Armee all ihre Feuerkraft gegen die unglücklichen Be­woh­ne­r*in­nen Gazas einsetzt, bestraft sie die Hamas nicht nur für ihre Verbrechen, sondern auch dafür, dass sie das wesentliche Credo Israels untergraben hat – eines Landes, das den dort lebenden Juden und Jüdinnen Sicherheit bieten soll.

Kampf ums Image der Supermacht

Die Soldaten kämpfen und die Luftwaffe bombardiert, weil die Hamas aller Welt vor Augen geführt hat, dass Israel verletzlich, unvorbereitet, von der Arroganz geblendet und unfähig ist, die eigenen Bür­ge­r*in­nen zu schützen. Die Armee kämpft und bombardiert mit dem Ziel, das Bild der Supermacht und die Abschreckung wiederherzustellen. Sie ist blind für das Leid, das sie anderen zufügt.

Rund 80 Prozent der Menschen im Gazastreifen sind Flüchtlinge. Als die Hamas die Grenzanlagen durchbrach, glaubten die Be­woh­ne­r*in­nen Gazas einen Moment lang, sie seien in das Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt, wenn auch nur für ein paar Stunden. Die gesamte seit 1948 entwickelte Mythologie, die palästinensische Flüchtlinge als Rückkehrer bezeichnet, fand hier einen Moment symbolischer Verwirklichung. Gleichzeitig sind Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen im Westjordanland der mörderischen Gewalt von Sied­le­r*in­nen ausgeliefert – gerade jetzt auch aus Rache für den 7. Oktober.

So aussichtslos die Lage derzeit ist, so darf nicht vergessen werden, dass Frieden in der Vergangenheit wiederholt möglich erschien. Schon David Ben-Gurion, Israels erster Regierungschef, hatte sich 1967 nach dem Sechstagekrieg für die Rückgabe der besetzten Gebiete ausgesprochen als Gegenleistung für die Anerkennung Israels, die die arabischen Staaten damals jedoch ablehnten.

25 Jahre später, im Jahr 1993, unterzeichnete der damalige Premierminister Jitzhak Rabin mit dem früheren PLO-Chef Jassir Arafat die Osloer Prinzipienerklärung, die zu einem Ende der Besatzung und schließlich zu zwei Staaten führen sollte. Rabin wie Ben-Gurion sahen realistisch voraus, dass die fortgesetzte Kontrolle von Millionen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen die jüdische Bevölkerung zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer früher oder später zur Minderheit werden lassen würde.

Die Kriegstreiber geben den Ton an

Rabins Kritiker*innen, allen voran Israels heutiger Regierungschef Benjamin Netanjahu, verfolgen das genaue Gegenteil, nämlich die Zweistaatenlösung unmöglich zu machen. Das heißt: den Frieden zu verhindern. Das ist ein Ziel, das die Hamas weitgehend teilt. Die Hamas kam 2006 in Gaza vor allem deshalb an die Macht, weil die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen das Gefühl hatten, dass Arafat seinen Teil des Abkommens weitgehend erfüllt hatte, ohne dafür jedoch die entsprechende Gegenleistung zu erhalten.

Was die bis ins Mark korrupte Palästinensische Autonomiebehörde betrifft, so wurde sie immer eher als eine Art Hilfsorganisation der israelischen Unterdrückung im Westjordanland betrachtet. Die einzige Alternative zur Fatah, der Partei Arafats, deren Chef inzwischen der palästinensische Präsident Mahmud Abbas war, blieb bei den Wahlen im Jahr 2006 nur die Hamas. Und das vermutlich zur großen Zufriedenheit von Netanjahu.

Israel stellte drei Bedingungen, die erfüllt werden mussten, um eine Zusammenarbeit mit der demokratisch gewählten palästinensischen Führung herzustellen: Die Anerkennung Israels, die Anerkennung der mit der PLO unterzeichneten Friedensabkommen und die Abkehr von jeglicher Gewalt. Die Hamas ging darauf nicht ein. Beide Konfliktseiten boykottierten sich gegenseitig.

Bis zum 6. Oktober war sich Netanjahu mit Unterstützung der USA eines für Israel günstigen Weges sicher, zumal sogar Saudi-Arabien im Begriff war, einen Separatfrieden mit ihm zu unterzeichnen und die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen zu ignorieren. Der brutale Angriff der islamistischen Hamas auf Hunderte israelische Zi­vi­lis­t*in­nen veränderte die nahöstliche Realität. Letztendlich entzweit der Krieg nicht wirklich die beiden Völker, sondern diejenigen, die Frieden suchen und diejenigen, die Krieg wollen.

Zum Unglück geben die Letzteren den Ton an. Sollte dieser Konflikt nicht den ganzen Nahen Osten in Brand setzen, wird vielleicht der Tag kommen, an dem sowohl die einen wie die anderen endlich diese einfache Wahrheit akzeptieren werden: In dieser unglücklichen Weltregion ist dieser Krieg keine Lösung – und wird es auch niemals sein.

Aus dem Französischen von Barbara Oertel

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wurde 1946 in Beirut geboren und lebt seit 1969 in Paris. Er war als Journalist für zahlreiche Zeitungen tätig, unter anderem als Nahost-Korrespondent für die französische Zeitung „Libération“. Er arbeitet als freier Schriftsteller und Drehbuchautor.

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