Verkörperung des Körperlosen

Die Kompanie des Stadttheater Bremerhaven unternimmt einen Seelen-Tanz: Choreografisch balanciert er genau zwischen klassischem und retromodernem Ballett

Schau, was kommt von draußen rein: Es wird wohl eine Seele sein Foto: Heiko Sandelmann/Theater BHV

Von Jens Fischer

Auf ein ungesichertes, von Naturwissenschaft und Philosophie umso reizvoller umkämpftes Terrain begibt sich das Ballett des Stadttheaters Bremerhaven mit der Saisoneröffnungspremiere „Seelen“. Nach „Dornröschen“ und einem „Latino“-Tanzabend geht der neue Spartenleiter Alfonso Palencia also inhaltlich in die Vollen. Will die Instanz in Bewegung versetzen, die aus Körpermaschinen lebendige Wesen macht und je nach Sichtweise als spirituell Inneres, sphärischer Geist oder immaterielle Essenz des Menschen bezeichnet wird, seit Platon auch als unsterbliche Vernunftseele bekannt ist, die sich nach dem Tod vom Körper trennt und in die Welt der Ideen gelangt, den unveränderlichen Urbildern aller Dinge.

Dagegen wandte sich bereits der antike Kollege Aristoteles und wurde ein Wegweiser in die Moderne. Ist Seele für ihn doch die untrennbar mit dem Körper verbundene Lebenskraft. Entsprechend behauptet auch die heutige Hirnforschung, Seele sei Geist und der bestehe aus hochkomplexen Gedankenprozessen, die an die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn gekoppelt seien. Seele/Geist wird also auf physiologisches Geschehen reduziert und zur Hirnmaschine. Dagegen wehrt sich nun wiederum Palencia mit einem Rekurs auf Platon: „Behind the window“ ist das Kammerballett im dreiteiligen „Seelen“-Abend betitelt.

In einem weißen Zimmer tanzt die Familientrias. Am größten, kräftigsten und gebrechlichsten erscheint der Sohn. Er krümmt sich, zuckt, wankt, sinkt in sich zusammen, fällt, wird von Vater und Mutter umsorgt. Umsonst. Leblos ausgestreckt liegt er schließlich da, Nebel wallt, die Eltern richten sich gegenseitig auf, schlagen die Hände vor die Augen und umarmen sich selbst. Dann taucht die Seele des Toten plötzlich hinter einem Fenster wieder auf, im physischen Design und Kostüm wie vor dem Ableben. Der Vater sieht die Gestalt, die Mutter nicht. Streit. Trennung. Dann erblickt die Mutter auch die Sohn-Seele. Aus der bühnendunklen Post-mortem-Welt wird sie zurückgeholt, Trio-Tanz-Traum, Umarmungen, erneuter Abschied. Vorhang.

Das könnte so gemeint sein: Die Seele, das Ich oder Wesen eines Menschen existiert auch nach dem Tod weiter, da sie sichtbar und lebendig bleibt in Gedanken, Erinnerungen und Fantasien der Hinterbliebenen. Das ist wohl tröstlich gemeint, ignoriert aber die tiefe Verzweiflung über die reale Abwesenheit eines geliebten Menschen.

Alfonso Palencia, einst Ballettdirektor am Theater Hagen, hat das geschmeidig choreografiert, ohne zwanghaft eigenwillig eine ästhetische Position zu suchen, die sich Erwartungen widersetzt, die sein Vorgänger Sergei Vanaev 18 Jahre lang erfüllt hatte, um dann ans Theater Plauen/Zwickau zu wechseln. „Behind the window“ balanciert teilweise im Stummfilmgestus an der Bruchstelle von noch klassischem, schon retromodernem Tanz. Derart parliert auch Palencias Choreografiegeflecht „Anima“.

Im Bühnenhintergrund tanzen schwarz gewandete Seelen-Darstellerinnen an Stangen, schmerzkunstvoll um Tote trauernd und dabei in leidvolle Einsamkeit verstrickt. Grau gewandete Kol­le­g:in­nen ruckeln ihre Körper morgengymnastisch träge hin und her, erblühen ruckartig, verfallen in irritierte Suchbewegungen und recken Arme offenbarungswillig gen Himmel.

Es sind laut Palencia die gerade aus dem Leben verabschiedeten, noch in einem Zwischenreich sich verunsichert orientierenden Figuren – enthusiastisch umwirbelt von fröhlich weiß gewandeten Seelendarsteller:innen, die sich schon zu Hause fühlen im Jenseits, Himmel, Nirvana, Hades, in der Unter-, Neben-, Über-, Nachwelt oder wie auch immer ihre neue, metaphysische Heimat heißen mag. Die Weißen umarmen die Grauen oder kümmern sich im Wortsinne berührend um die Schwarzen, verführen sie auch zu formidablen Pas de deux.

Wollen also überzeugen, nach den Turbulenzen im Sonnenlicht des Lebens müsse man keine Angst vorm Schattenleben haben. Aber erst nach einer halben Stunde lassen die Schwarzen von schmerzhaftem Spitzentanz ab und wechseln wie die Grauen ihre Kostümfarbe – in Weiß.

So sind alle im Sein nach dem Dasein wiedervereint und lassen wissen, dass irdisch Liebende im Seelenreich auf ewig ihr Glück fortsetzen können. Palencia versteht das als Hommage an die Opfer der Corona­pandemie und alle, die sich aufgrund von Kontaktverboten nicht von ihnen verabschieden durften.

Enthusiastisch wirbeln fröhlich weiß gewandete Seelen-Darsteller:innen, die sich schon zu Hause fühlen im Jenseits

In Szene gesetzt ist das mit dem 18-beinigen Ensemble und vier Jah­res­prak­ti­kan­t:in­nen ähnlich bildstark wie der Prolog des Abends: In Cayetano Sotos „Twenty eight thousand waves“ zelebriert in sturmmetaphorischer Atmosphäre menschliches Zu-sich-kommen-Wollen, woraufhin Paare apart zueinander finden. Allerdings in überholten Rollenklischees. Sind es doch immer wieder Männer, die Frauen heben, drehen, senken, tragen, stützen, halten, herumschleudern und -schleifen. Extremitäten wechseln dabei klappmesserrasant von Streckung zu Beugung und zurück. Was alles prima aussieht, aber wenig davon zeigt, wie einzigartig der körperliche Ausdruck unseres Weltempfindens sein könnte. Gerade auch weil die junge Compagnie nicht als Gruppe gefühlspraller Individuen, sondern wie bewegte Puppen choreografischer Vorgaben auf der Bühne steht.

Das Bremerhavener Ballett kommt daher weniger vielfältig und persönlich, eher athletisch kompakter daher als die neoklassische Compagnie in Oldenburg. So virtuos stilbildend und perfekt in Unisono-Passagen wie die Kolleg:in­nen an den Staatsopern in Hamburg und Hannover ist sie bei Weitem nicht. Sie zelebriert aber einen radikalen Gegenentwurf zum zeitgenössisch experimentierfreudigen und stets zum Äußersten entschlossenen Bremer Tanztheater.

Das Palencia-Team versucht mit elegantem Changieren zwischen abstrakter und dezent expressiver Bewegungsschönheit eine Bewegungskunst-Alternative in Deutschlands Nordwesten zu sein. „Seelen“ wurde mit stehend dargebrachten Ovationen gefeiert.

Tanzabend: „Seelen“, Stadttheater Bremerhaven, wieder am 5. und 12. 11., 18 Uhr sowie am 18. 11., 2. und 15. 12., jeweils 19.30 Uhr