Adorno und der alpine Skisport: Dialektik des Abfahrtsrennens

Der alpine Ski-Weltcup feiert seine Matterhorn-Premiere. Die Red-Bullisierung des Wintersports schreitet voran.

Bauarbeiten an der Weltcupskipiste am Matterhorn

Ein Gletscher wird für ein Weltcup-Rennen umgebaut: die Skipiste Gran Becca am Matterhorn Foto: Bott/Keystone/dpa

Erstmals macht der alpine Skizirkus dieses Wochenende am „Kinderbild des absoluten Bergs“ halt. Auf den Philosophen Theodor W. Adorno, von dem das Zitat stammt, wirkte das Matterhorn, als „wenn er der einzige Berg auf der ganzen Welt wäre“.

Tatsächlich ist an Berg und Abfahrt vieles einzigartig. So hoch, nämlich auf 3.800 Meter Meereshöhe, ist noch nie ein Weltcup-Rennen gestartet. Dass es derart früh in der Saison, nämlich schon Anfang November, stattfindet, ist auch besonders und sorgt für Kritik. Im vergangenen Jahr musste die geplante Premiere auf dieser neuen Vorzeigerennstrecke des alpinen Skisports, Gran Becca ist ihr Name, noch wegen Schneemangels abgesagt werden. Am gestrigen Freitag fielen die Trainingsläufe wegen Schnee und Wind aus.

Große Teile der Abfahrt, vor allem der Startbereich nahe dem Klein Matterhorn, liegen auf dem Theodulgletscher. Der schmilzt zwar, wie alle Gletscher durch die Erderwärmung schmelzen, aber noch ist er ein Ganzjahresskigebiet, sehr populär auch zum Sommertraining von Weltklasse­skifahrern, was auch ökologisch fragwürdig ist.

Und da ist der Berg, der in der Geschichte schon so vieles aushalten musste. Von Toblerone über das Paramount-Logo, die unterschiedlichsten Weltfirmen bedienen sich seiner besonderen Schönheit. Bereits 1859, sechs Jahre vor der Erstbesteigung des Matterhorns, wollte ein Schweizer Ingenieur in den Berg einen Tunnel graben, der wie eine Wendeltreppe zum Gipfel geführt hätte. Später sollte eine Drahtseilbahn gebaut werden, die mit 75-prozentiger Steigung und zwei Kilometern Länge bis 20 Meter unter den Gipfel führen sollte.

Die TV-Kameras fangen das Rennen vor der Matterhorn-Kulisse ein

Auf dem großen Matterhorn mit seinen 4.478 Metern Höhe wurden all diese Pläne nicht verwirklicht, sehr wohl aber am Klein Matterhorn, der benachbarte Berg, der mit 3.883 Metern immer noch sehr hoch ist. Hier führt eine Seilbahn hoch, hier gibt es Shopping-Möglichkeiten und Restaurants, und nur wenige Meter von diesem Komplex entfernt startet am Samstag das Abfahrtsrennen.

Unterhaltungsindustrie am Berg

Viel Stoff für einen Kritiker der Unterhaltungsindustrie also. Es ist eine Red-Bullisierung des Wintersports, die wir erleben müssen. Wie die anderen Extremsportarten, die der Getränkekonzern sponsert, wird auch hier die Naturkulisse zur Inszenierung des Sports genommen: Wasserspringen von wilden Klippen, Surfen auf höchsten Wellen, Base-Jumping vor steilen Felswänden – und eben eine Speed-Skiabfahrt vor der Kulisse des Matterhorns.

Die Fernsehkameras sind so aufgebaut, dass der berühmte Berg möglichst oft im Bild sein wird, und die erste schwierige Stelle der Abfahrt heißt entsprechend „Matterhorn-Sprung“. Zu dieser Red-Bullisierung passt auch die Grenzüberschreitung, die der kapitalistischen Akkumulation innewohnt. Erstmals wird eine Weltcup-Abfahrt über zwei Länder geführt: Italien und die Schweiz, die sich das Matterhorn teilen.

Adorno erreichte, als er 1969 in Zermatt war, übrigens weder das Matterhorn noch das Klein Matterhorn. Damals führte die Seilbahn nur bis zur Station „Trockener Steg“ auf knapp 3.000 Metern Höhe. Dort stiegen Theodor W. und Gretel Adorno aus, später bekam er Herzbeschwerden, wurde ins nächste Krankenhaus gebracht, wo er starb. Der Gesellschaftskritiker kam seinem idealen Berg in der Realität also sehr nahe, ehe er starb. Nun bemächtigt sich die Unterhaltungsindustrie dieses „Kinderbildes absoluten Berges“.

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