Über „Philosophy for Palestine“: Mainstream der Avantgarde

Namhafte Phi­lo­so­ph:in­nen solidarisieren sich mit den Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen gegen Israel. Über die Misere der Philosophie als Parole.

Ein Paar umarmt sich auf einer Trauerveranstaltung in Tel Aviv

Trauer in Tel Aviv Foto: Francisco Seco/ap

Kein Tag, an dem nicht ein neuer offener Brief seinen Weg in die Welt findet. Ob in Kunst, Film oder Philosophie, alle wissen genau, was zu tun ist. Man wähnt sich als Avantgarde – Autoritäten, die einlenken, wachrütteln und eine Bewegung gegen ein Unrecht lostreten wollen.

Aber was, wenn es eine solche Bewegung längst gibt auf den Straßen und die vermeintliche Avantgarde einem fashionablen Mainstream hinterhängt? Wenn sie bloß uralte Dichotomien herausposaunt, dem Gerücht statt den Fakten folgt, ahistorisch und selektiv kontextualisiert, gar den theoretischen Antihumanismus beim Wort nimmt? Dann sind die posenhaften Vor­den­ke­r:in­nen in der Parole angekommen.

Der prätentiös „Philosophy for Palestine“ getitelte offene Brief von vergangener Woche ist hier ein herausragendes Beispiel. Lanciert wurde er von linken Phi­lo­so­ph:in­nen wie Angela Davis, Nancy Fraser, Étienne Balibar und natürlich Judith Butler, um nur die prominentesten zu nennen. Liest man den Brief, fällt einem unweigerlich die Aussage Karl Jaspers’ ein – „Wer meint, alles zu durchschauen, philosophiert nicht mehr“.

Dort sieht man es anders: Die philosophische Disziplin habe in letzter Zeit „bewunderswerte“ Fortschritte gemacht in der direkten Auseinandersetzung mit „drängenden und dringenden Ungerechtigkeiten“, heißt es in dem Brief. Deshalb gelte es auch jetzt, die „Komplizenschaft“ und das „Schweigen“ zu überwinden. Was folgt, ist nicht weniger als eine totale Bankrotterklärung dieser linken Denker:innen.

Falsche Prämissen

Apartheid, Genozid, Boykott, das ganze Programm der „Free Palestine“-Bewegung wird aufgerufen. Dabei könnte man von professionellen Den­ke­r:in­nen mit viel Zeit fürs Denken erwarten, dass sie den Unterschied zwischen Massaker, Pogrom, Krieg und Genozid kennen. Tun sie aber nicht. Oder wollen sie nicht.

Die Hamas eröffnete das Feuer auf die friedlichen Zivilist:innen, brach ihnen Arme und Beine

Allein ein Blick in die demographischen Daten würde reichen, um zu sehen, dass es keinen Genozid an den Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen gibt. Und das, soweit wir bisher sehen, auch nicht unter den jetzigen, zweifellos schrecklichen Bombardierungen durch Israel. Krieg ist nie gerecht und jedes Leid ist absolut. Das Wort Genozid aber ist zu einem modischen Kampfbegriff geworden, der den Blick auf die Taten verstellt.

So ist es kaum verwunderlich, dass die Phi­lo­so­ph:in­nen des Briefes ein „Massaker“ an den Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen zu sehen glauben, das genozidale Pogrom der Hamas vom 7. Oktober aber nur als „Angriff“ bezeichnen. Gerade so, als wären ein paar bewegte Teenager auf Skateboards, mit Pfeil und Bogen in die Kibuzzim eingefallen.

Die Schuldfrage war für die Den­ke­r:in­nen wohl schon geklärt, bevor die Hamas mit Zi­vi­lis­t:in­nen im Schlepptau Frauen und Mädchen vergewaltigten, die Genitalien von Männern verstümmelten, Babies in Öfen verbrannten oder köpften, Körper massakrierten, Leichen schändeten, Eltern zwangen, die Misshandlungen an ihren Kindern mit anzuschauen. Letztlich, so sind die Den­ke­r:in­nen zu verstehen, habe Israel „als ethnisch-suprematistischer Staat“ und sein Apartheidssystem die Bedingungen für Gewalt erzeugt.

Ist das wirklich Apartheid?

Dass die Situation mindestens komplexer ist, zeigt schon allein die Tatsache, dass 20 Prozent der Israelis arabische Muslime sind, zwei arabische Parteien in der Knesset sitzen, muslimisch-arabische Israelis Teil der israelischen Armee sind und zwei arabisch-israelische Richter am Obersten Gerichtshof sitzen, davon einer muslimisch. Ist das wirklich Apartheid?

Es gibt Rassismus, Diskriminierung, Unrecht, Rechtsradikale wie Ben Gvir in der aktuellen Regierung und fanatisch-nationalistische Siedler im Westjordanland, die mob­artig Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen angreifen. Aber nichts von all dem kann das genozidale Pogrom vom 7. Oktober erklären oder legitimieren. So auffallend die Kälte, mit der viele den Zivilisationsbruch hinnehmen, so laut die Anteilnahme für Gaza und die Forderung nach einem Waffenstillstand.

Auch in diesem Brief. Diese Forderung mag richtig klingen und im warmen Raum der Universität ein gutes Gewissen machen. Für Israel jedoch würde sie bedeuten, weiterhin mit der Hamas und ihrem dschihadistischen Terror konfrontiert zu sein. Richtig wäre stattdessen die Freilassung der israelischen Geiseln und die Befreiung Gazas von der Hamas zu fordern.

Auch von Seiten der Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen müsste diese Forderung jetzt kommen.

Menschen in Gaza

Auf Keshet 12 News gibt es eine sehenswerte Dokumentation eines israelischen Journalisten über Menschen, die aus Gaza nach Europa geflohen sind. Alle wollen a­nonym bleiben, weil sie sogar im Exil noch Angst vor der Hamas haben. Die Interviewten erzählen, wie Millionen von Dollar, die ins Land kommen, an die Hamas und ihre Familien gehen und die Bevölkerung in Armut lebt. Ein Mann sagt: „Für die Hamas sind wir nur ihre Einkommensquelle.“

Sie berichten von den Demonstrationen von 2017, als 10.000 Menschen im Flüchtlingslager Jabaliya im nördlichen Gazastreifen auf die Straße gingen und riefen: „We want life!“ und „Oh, Haniya und Abbas, wir werden mit Füßen getreten“. Sie waren zu den Elektrizitätswerken marschiert, weil Steuerstreitigkeiten zwischen der Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde zu Stromausfällen geführt hatten. Die Hamas eröffnete das Feuer auf die friedlichen Zivilist:innen, verhaftete viele, brach ihnen Arme und Beine.

Der Hamas-Funktionär Khalil al-Hayya sagte kürzlich ganz offen, das Ziel sei nicht, Gaza zu regieren, sondern Israel in einen dauerhaften Kriegszustand zu verwickeln. Was er nicht sagte, aber offenkundig ist: Die ganze arabische Welt soll in den Krieg gegen Israel ziehen.

Und während auch Israel noch immer von Gaza und zuletzt auch aus Jemen beschossen wird, machen sich die Phi­lo­so­ph:in­nen jenes offenen Briefes Sorgen um ihre Steuern, mit denen nicht die Unterdrückten, so der Wortlaut, sondern die Unterdrücker – Israel – finanziert würden. Man stelle sich nur umgekehrt vor, jemand forderte die Steuergelder für ihre Professuren zu streichen, weil sie die Hassrede von der Straße für Philosophie halten. Das wäre doch seltsam.

Eine Gegenrede von Seyla Benhabib

Die türkisch-amerikanische Philosophin Seyla Benhabib legte in einem Text, mit dem sie sich an die Kol­le­g:in­nen wandte, umgehend einige falsche Prämissen jenes Briefes offen: Dass die Phi­lo­so­ph:in­nen „den Konflikt in Israel-Palästina allein durch die Brille des ‚Siedlerkolonialismus‘ betrachten und die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu einem Akt des legitimen Widerstands gegen eine Besatzungsmacht hochstilisieren“, hält sie für einen „kolossalen Fehler“.

Hier fehle „jegliches Gespür für Geschichte“. Benhabib macht auf die Widersprüche und das Leiden auf beiden Seiten aufmerksam, erinnert an Yitzhak Rabin, der von einem jüdischen Extremisten getötet, und an Anwar Sadat, der wegen seiner Bemühungen im Friedensprozess mit Israel von den ideologischen Vorläufern der Hamas ermordet wurde. Auch die Netanyahu-Regierung kritisiert sie hart – zu Recht.

Seyla Benhabib fragt ihre Kolleg:innen: „Die Hamas hat sich der Zerstörung des Staates Israel verschrieben; das unterstütze ich nicht. Und Sie? Welche moralische oder politische Logik liegt Ihrer Argumentation hier zugrunde?“

Hinter diese zentrale Frage werden die Un­ter­zeich­ne­r:in­nen des offenen Briefes nicht zurückkönnen, wollen sie nicht in der antizionistischen Parole verharren, die aktuell allerorten gefährlichen Antisemitismus hervorbringt. Es geht dabei nicht um Bekenntniszwang, sondern um eine politische Frage. Den Raum dafür haben die Phi­lo­so­ph:in­nen mit ihrem Brief selbst geöffnet.

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