orte des wissens
: Ein gar nicht staubiges Stadtarchiv

Geschichtswerkstatt ist es schon, Lernort will es nun auch noch werden: Das Wolfsburger Institut für Zeitgeschichte befasst sich auch explizit mit der NS-Zeit

Stadtarchiv. Ein bisschen trocken hört sich das an. Nach vergilbten Akten, die in ihren Regalen verstauben, weil sich niemand für sie interessiert. Beim Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS) der ostniedersächsischen Stadt Wolfsburg sieht das anders aus – völlig anders. Sein Kern ist das Archiv der Kommune, und das tut, was ein Kommunalarchiv nun mal tut: sammeln, verwahren. Aber der Bildungsort, der diesem Kern entwachsen ist, sucht bundesweit seinesgleichen.

Das hat mit Wolfsburgs kurzer Vergangenheit zu tun. 1938 als NS-Mustersiedlung gegründet, für VW und dessen „Kraft durch Freude“-Wagen, den späteren und vermeintlich so unschuldigen „Käfer“, ist die Stadt eine Geburt düsterer Zeiten. Aus dieser Düsternis erwächst für das IZS eine Selbstverpflichtung: zwar ein Archiv zu sein, aber zugleich ein Ort moderner Geschichtsdidaktik. „Die Vermittlungsarbeit entwickelt sich aus den Themen und dem Material des Archivs heraus“, sagt IZS-Leiterin Anita Placenti-Grau der taz. „Das ist eine wichtige Schule für Demokratie.“

Besonders im Fokus steht die NS-Zeit. Gerade in Zeiten, in denen rechtes Gedankengut auf die politische Bühne zurückkehrt, als habe Deutschland nicht aus seiner Geschichte gelernt, sei es „mehr als wichtig“, sagt Placenti-Grau, „hier aufzuklären, gegenzusteuern“. Aber ihre Demokratie-Schulung schließt die Gegenwart ein. „Wir archivieren hier ja auch Material, das heutige demokratische Entscheidungsprozesse spiegelt, machen es sichtbar, zugänglich“, sagt Placenti-Grau.

Eine Geschichtswerkstatt ist so entstanden, inklusive des archivdidaktischen Modells „Ran an die Quellen“. Die Publikationsreihe „Das Archiv – Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte“ ist ein Web-Portal zu Orten und Geschehnissen, vom Kriegerdenkmal in Almke, das mit Adler, Stahlhelm, Eichenlaub, Lorbeerblatt und Kanonenrohr den Tod heroisiert, bis zum Mord an 2nd Lieutenant Sidney A. Benson, der mit dem Fallschirm absprang, als sein B-24-„Liberator“-Bomber im Juni 1944 bei Wolfsburg abgeschossen wurde. Er wurde von Einheimischen bestialisch getötet.

Und dann erzählt Anita Placenti-Grau vom Lager Laagberg bei Wolfsburg, einer 1944 eingerichteten Außenstelle des KZ Neuengamme. Dort, wo es stand, mit seinen Wachtürmen und Zäunen, will die Stadt einen Lern- und Gedenk­ort errichten; das IZS wird ihn betreiben. Archäologische Grabungen hatten dort Fundamentreste von Baracke 4 zutage gefördert. Teile davon warten jetzt, dem Erdreich entnommen, darauf, Teil einer Ausstellung zu werden, die das Geschehen im Lager dokumentiert. Aber die kommunalen Mühlen malen langsam und bis zur Errichtung und Eröffnung des Lern- und Gedenkorts dauert es noch.

Wegen der NS-Vergangenheit der Stadt will das Institut nicht nur Archiv sein, sondern auch ein Ort moderner Geschichtsdidaktik

Aber Führungen finden hier schon statt. Und am Bauzaun hängt ein großes Foto eines KZ-Häftlingsanzugs. „Wir wollen, dass die Leute, die nebenan zur Tankstelle fahren, in den Supermarkt gehen, wissen, was hier damals passiert ist“, sagt Placenti-Grau. Sie nennt das „Tatorte zum Sprechen bringen“. Wenn es nach der IZS-Leiterin geht, kann es mit dem Start ihres neuen außerschulischen Lernorts in Laagberg schnell gehen: „Wir sind in den Startlöchern“, sagt sie. „Die Inhalte haben wir beisammen.“

Nein, das Stadtarchiv Wolfsburg kann keine uralten Pergamente vorweisen, keine Ledereinbände mit Blattgold, keine geheimnisvolle Bibliotheks-Kulisse wie aus Umberto Ecos „Der Namen der Rose“. Aber wirkmächtig ist das IZS trotzdem. Sein neuestes Forschungsprojekt: Migration. Einen Audiowalk dazu gibt es schon. Harff-Peter Schönherr