wortwechsel
: Unversöhnlich – bis in alle Ewigkeit?

Die Kriegs- und Terrorbilder aus Israel und Palästina zeigen erbarmungslose Grausamkeit gegen Zivilisten. Noch nie wurden so viele Kinder in so kurzer Zeit in einem Krieg ermordet

Fragwürdige Vergleiche

„Gedenken zum 9. November 1938: „Empört und beschämt“. 85 Jahre nach der Reichspogromnacht ruft der Kanzler zum Schutz jüdischen Lebens auf“,

taz vom 10. 11. 23

Als alter Historiker frage ich mich: Ist der blutige Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 tatsächlich mit dem Beginn der Judenvernichtung in Nazideutschland am 9. November 1938 gleichzusetzen?

1938 haben die Nazis Juden umgebracht, weil sie nach ihrer absurden Ras­sen­ideologie Juden waren. Am 7. Oktober haben die Hamas-Kämpfer unterschiedslos Menschen aus aller Welt umgebracht, in der Mehrzahl Juden zwar, aber nicht wegen einer Rassenideologie, die auf Judenvernichtung aus ist, sondern weil diese Menschen als ein Teil des Besatzungsregimes angesehen wurden. Selbstverständlich ist es verdammenswert, Zivilisten umzubringen, es kann keine Entschuldigung dafür geben.

Wichtig erscheint mir jedoch die Einordnung scheinbarer historischer Parallelen unter Berücksichtigung der genauen Hintergründe. Alle Ermordeten und Entführten sind nach der Logik der Angreifer im Zusammenhang mit dem von ihnen als Besatzungsregime angesehenen Staat zu sehen. Insofern ist zu befürchten, dass der Blick auf die bei flüchtiger Betrachtung gesehene Gleichartigkeit der Ereignisse von 1938 einer vernünftigen Analyse der aktuellen Situation im Wege steht.

Jüdische Menschen haben unerhörte Verfolgung in der Vergangenheit zu betrauern, es gibt auch heute noch genug verabscheuungswürdige antisemitische Ereignisse. Aber Araber haben in der Geschichte eher weniger antisemitische Pogrome zu verantworten als Europäer, selbst ohne den Holocaust, und es steht die Frage im Raum, ob mit der Reduzierung der Gründe für die Angriffe des 7. Oktobers auf „Antisemitismus“ und „Judenhass“ nicht das tatsächliche politische Verhältnis von Israel und den Palästinensern, als das von Besatzern und Besetzten, verschleiert werden soll. Sicherheit für alle Bewohner dieser Gegend kann es nur geben, wenn die Menschenrechte aller in Gänze beachtet werden. Rolf Niebel

Die Staatsräson …

„Staatsräson gibt staatlichen Interessen Vorrang vor anderen Werten“, sagt Marietta Auer, GF-Direktorin des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie. Sie warnt, der Schutz des Staates Israel könnte sich als ein Wert herausstellen, „der andere deutsche Interessen konterkarieren könnte.“ Und genau diesen Fall haben wir gerade, wenn es um den Schutz der Nicht-Hamas-Menschen geht, die ungeschützt unter Feuer und im extremen Mangel leben und zu sterben drohen. Peter Heim, Köln

Frau Baerbock und die Bundesregierung lehnen einen Waffenstillstand in Nahost ab, solange auch der Feind Israels möglicherweise davon profitieren könnte – egal, was das Völkerrecht zur Kriegsführung Israels sagt und egal, ob mittlerweile fast alle Krankenhäuser in Gaza zerstört sind, und egal, wie viele Kinder noch sterben müssen … die deutsche Staatsräson kann da keine falsche Rücksicht nehmen. So schliddert die deutsche Politik tiefer und tiefer in eine Kriegspolitik im Inneren („Kriegsfähigkeit wiederherstellen“) wie im Äußeren. Mit der gleichen Argumentation wird von Frau Baerbock ein Waffenstillstand in der Ukraine abgelehnt. Katastrophal! Rüdiger Jung, Berlin

Kippa und Kufiya

Ich trinke Wein aus Kana und esse Datteln aus Ramallah. Auf dem Kopf die Kippa, um den Hals das Palästinensertuch. In der linken Hand die israelische, in der rechten die palästinensische Fahne. Meine Lippen formen das Schalom! und rufen internationale Solidarität! Im Herzen lebt die Vision des Jesaja: „Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ Ich bringe Gruppen mit Aktion Sühnezeichen zur Gedenkstätte in Auschwitz, wir sprechen mit Überlebenden. Die entsetzlichen Bilder vom 7. Oktober 23 fluten meinen Kopf. Blut schreit zum Himmel. Ich bin erschrocken über die unversöhnlichen Stimmen der Extremisten hüben wie drüben.

Martin Meier-Stier, Freiburg

Die Demonstrationen

12. November: Palästinensische Familien auf der Flucht aus dem Norden in den Süden von Gaza. Der Weg ist lang, auch hier fallen Bomben. Die Erwachsenen tragen die Kleinsten, manche der Kinder wurden durch Luftangriffe auf der Flucht verwundet Foto: Ibraheem Abu Mustafa/reuters

Wir sehen Zehntausende für Palästina und die Terrormilizen demonstrieren. Und wo bleibt eine überzeugende Israel-Solidarität? Ich lebe seit vier Jahren in Frankreich, dort sind Hunderttausende auf der Straße gewesen, davon waren viele Politiker. Und in unserem Deutschland, dem Land der Holocaustmörder? Hohle Solidaritätsbekundungen, Sonntagsreden. Ich schäme mich für mein Land und kann diesen passiven Zustand meinen französischen Freunden nicht erklären. Besonders übel finde ich es, so viele Jugendliche und junge deutsche Erwachsene auf diesen aintiisraelischen und deutlich judenfeindlichen Demos zu sehen. Was wurde denen eigentlich im Geschichtsunterricht beigebracht? Hanspeter Hofmann, St. Pierre des Ormes, Frankreich

Jetzt entscheidet Alexa

„Greta Thunberg im Nahostkonflikt: Die Schubladen klemmen“, taz vom 14. 11. 23

Thunberg ist vor allem mitfühlend. Wer kann sich schon den Bildern von zerstörten Wohnblocks, von umkämpften Krankenhäusern entziehen? MDarge auf taz.de

Die Schubladen passen nicht mehr in die dafür vorgesehenen Fassungen und fallen immer öfter zusammen, woraufhin ihre bisher voneinander getrennten Inhalte sich vermischen und seltsames Kuddelmuddel generieren. Aber dafür hab ich mir jetzt „Alexa“ angeschafft, die sagt mir meinem Profil gemäß jeden Morgen, wer heute die Guten und wer die Feinde sind … Wolfram Hasch, Berlin