berliner szenen
: Ich schreibe über meine Familie

Um fünf stehe ich auf und schreibe in mein Heft. So mit der Hand, sagt M. und macht die Bewegung vor.

Ihre Augen sind ungeheuer blau, ihr Gesicht beinahe jugendlich, von ihrer geistigen Wachheit nicht zu reden. Ihre Familie stammt aus dem Banat, sie selbst ist in der DDR aufgewachsen. Sie hat als Kulturjournalistin fürs Radio gearbeitet und auch als Märchenerzählerin. Sie hat mit Heiner M. geflirtet, und Ronald S. hat sich bei ihr im Wohnzimmer ausgeflennt.

Setz dich hierhin. Da sind die Leute, schau, sagt sie.

Ich schreibe über meine Familie. Meine Mutter ist tot, meine Schwester auch, jetzt schreibe ich. Alle haben immer gesagt, mach das, aber ich hatte keine Lust. Erst jetzt schreibe ich, aber ich sage dir nicht, was. Ich stehe auf, setze mich an den Tisch und es geht los. Auf einmal sind zehn Seiten da, und ich freu mich den ganzen Tag.

Das ist doch das Spannendste, die alten Geschichten. Aber so, wie ich sie sehe. Ich schreibe über meine Familie, wie ich sie heute sehe, wo alle tot sind.

Wir sitzen auf den Stufen der Pizzeria, mit den Einkaufstaschen, aus denen Grünkohl und Äpfel leuchten, neben uns.

Schau die Leute, sagt sie.

Ja, die Leute haben ihre Mäntel aus den Schränken geholt. Gerade eben war die Sonne noch da, jetzt ist es kühl.

M. lebt schon lange hier. Ich frage mich, was sie sieht, wenn sie die Touristen anschaut, die hier neuerdings vorbeiziehen.

Früher sind wir hier auf dem Gehweg mit den Rollschuhen gelaufen, wenn die FDJ marschierte. Da war die Kaufhalle, da der Bäcker, dort die Fleischerei, das war’s, sagt sie.

Mythen, überall. Wenn ich jetzt meine Familiengeschichte aufschreibe, Mythen. Ach, aber das erzähle ich dir nicht.

Sascha Josuweit