„Einwanderung allein kann das nicht stoppen“

Es braucht vor allem ein kinderfreundliches Umfeld und wirtschaftliche Perspektiven, fordern zwei griechische Demografie-Experten. Andernfalls steht dem Land ein gewaltiger Bevölkerungsrückgang bevor

taz: Herr Kotzamanis, Herr Baltas, was ist das Hauptproblem von Dörfern wie Nea Zichni?

Vyron Kotzamanis: Nea Zichni ist der klassische Fall einer Gemeinde mit rückläufiger demografischer Dynamik. Die Bevölkerung des Dorfes ist zwischen 2011 und 2021 um 33 Prozent zurückgegangen. Das ist der höchste Rückgang in ganz Griechenland. In den sechs Jahren vor der Coronapandemie, also von 2014 bis einschließlich 2019, hatten wir dort fünf Todesfälle pro Geburt.

Welche Rolle spielt die geografische Lage einer Region?

Pavlos Baltas: Besonders betroffen sind abgelegene Bergregionen und ländliche Gebiete. Die Entvölkerung ist eines der Hauptprobleme, die der demografische Wandel in diesen Gebieten mit sich bringt. Geringe Fruchtbarkeitsraten und die anhaltende Abwanderung der jungen Menschen in die Großstädte führt zu einer Entvölkerung, die den Prozess der demografischen Alterung und die Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung in diesen Gebieten beschleunigt.

Von welchen Faktoren hängt die Dynamik des Bevölkerungsrückgangs ab?

V. K.: Es gibt zwei Faktoren: Den Wanderungssaldo, also die Zuzüge abzüglich der Fortzüge, und den natürlichen Saldo. Was ihn betrifft, werden bis 2050 – je nach Szenario – Jahr für Jahr 45.000 bis 55.000 mehr Menschen sterben als geboren werden. Ferner gibt es regionale Unterschiede. Der Bevöl­kerungsrückgang wird in weiten Teilen des ländlichen Raums auf dem griechischen Festland, wo keine nennenswerte Industrie existiert und die keine prosperierenden Tourismusregionen darstellen, viel stärker ausfallen als in Großstädten wie Athen und Thes­saloniki sowie in Tourismushochburgen wie Kreta oder den Inseln der Südägäis.

Es müssten also die Geburtenrate steigen?

V. K.: Selbst wenn sich die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau erhöhen wird (derzeit 1,43 Kinder; Anm. d. Red.), wird dies den Bevölkerungsrückgang in vielen griechischen Gemeinden nicht mehr aufhalten können. Der Anteil der Frauen im geburtsfähigen Alter sinkt, die Bevölkerung altert, die „Alterung in der Alterung“ nimmt zu mit dem Anstieg des Anteils der über 85-Jährigen. Auf eine Geburt werden immer mehr Todesfälle kommen.

P. B.: Wie Eurostat voraussagt, wird die Bevölkerung auch bei einer leicht erhöhten Geburtenrate von 1,6 Kindern pro Frau und einem Null- oder leicht positiven Wanderungssaldo im Jahr 2050 neun Millionen betragen. 2050 wird jedoch ein Drittel der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein.

Könnte die Zuwanderung aus anderen Ländern eine Lösung sein?

V. K.: Mittel- und langfristig hat die Zuwanderung durchaus positive Auswirkungen auf nationaler Ebene, aber nicht unbedingt auf regionaler Ebene. Keine noch so große Einwanderung wird den demografischen Niedergang vieler Gemeinden aufhalten können. Langfristig ist ein Stopp der Abwanderung junger Menschen, die Rückkehr der Abgewanderten und vor allem die Schaffung eines allgemein kinderfreundlichen Umfelds nötig, damit junge Paare in Zukunft so viele Kinder bekommen können, wie sie wollen. Und zwar zu dem Zeitpunkt, zu dem sie sie haben wollen. Dieses Umfeld ist heute nicht gegeben.

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Vyron Kotzamanis

ist Professor an der Universität Thessalien und lehrt dort Demografie und Regionalentwicklung.

Was sind die Probleme?

P. B.: Zum Beispiel haben junge Menschen, die nicht ausgewandert sind, mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Erstens hat Griechenland laut Eurostat eines der höchsten Durchschnittsalter beim Auszug aus dem elterlichen Haushalt, nämlich 30 Jahre, während der EU-Durchschnitt bei 26 Jahren liegt.

das berühmte „Hotel Mama“…

P. B.: Ja, aber der Wegzug von den Eltern fordert einen festen Arbeitsplatz. Es gibt in Griechenland jedoch weiter eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Es braucht Zugang zu Wohnraum, also angemessene Mieten. Doch Griechenland hat die höchsten Wohnkosten in der EU. Laut Eurostat wurden 2021 im Durchschnitt 18,9 Prozent des verfügbaren Einkommens für Wohnkosten aufgewendet. Die höchste Quote mit 34,2 Prozent hat Griechenland, der Wert in Deutschland liegt bei 23,4 Prozent.

Bleibt die Zuwanderung, um die Bevölkerungsentwicklung dauerhaft zu stabilisieren.

P. B.: Auch das ist nicht so einfach. Wir sprechen über Menschen. Ergibt die Differenz zwischen Geburten und Sterbefällen ein jährliches Defizit von 60.000, bedeutet dies, dass die Bevölkerung des Landes stabil bliebe, wenn der jährliche Wanderungssaldo um 60.000 Menschen positiv wäre. Aber diese 60.000 Menschen müssen nicht nur kommen. Sie müssen auch einen anständigen Job haben und eine Wohnung mit einer vernünftigen Miete. Das ist nicht garantiert. Griechenland ist derzeit kein attraktives Ziel für Einwanderer, wie es in den 1990er und bis Ende der 00er Jahre war.

Ähnelt die Entwicklung in Griechenland der Situation in anderen europäischen Ländern, etwa in Deutschland?

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Pavlos Baltas

forscht zur Demografie am Nationalen Zentrum für Sozialforschung (EKKE) in Athen.

V. K.: Die meisten Trends sind in allen Industrieländern gleich: eine steigende Lebenserwartung, eine Überalterung, eine niedrige Fruchtbarkeitsrate und mehr Sterbefälle als Geburten. Das Tempo des demografischen Wandels, das Ausmaß der einzelnen Indikatoren und vor allem die Einwanderung sind aber in den einzelnen Ländern unterschiedlich.

Wenn der Trend gleich ist, warum kommt es dann doch zu Unterschieden?

V. K.: Die europäischen Mittelmeerländer, der Westbalkan und die meisten Länder in Osteuropa verlieren zudem viele junge Menschen durch Abwanderung, einige seit mehreren Jahrzehnten. Spanien, Italien und Griechenland sind in den letzten fünfzehn Jahren ebenfalls davon betroffen. Im Gegensatz dazu verzeichnen Länder wie Deutschland unterm Strich einen Bevölkerungszuwachs. Er resultiert aber ausschließlich daraus, dass mehr Menschen kommen als auswandern. Andere Länder hingegen wie Frankreich sowie die nordischen Länder haben beides: ein positives natürliches Saldo – also mehr Geburten als Sterbefälle – und dazu mehr Einwanderer als Auswanderer.

Interview: Ferry Batzoglou