Bilanz vom Jazzfest Berlin: Utopie des Miteinanders

Improvisation bleibt risikioreich. Das macht sie so spannend. Und das war bei der 60. Ausgabe des Jazzfests Berlin wieder einmal zu erleben.

Aki Takase mit Hütchen am Flügel

Aki Takase am Flügel Foto: Roland Owsnitzki

Ein Bühnenbild wie ein Gemälde. Zwei schlanke und im Licht eines einzelnen Scheinwerfers schwarz glänzende Flügel schmiegen sich aneinander. Das Bild beschließt den ersten Konzertabend der 60. Edition des Berliner Jazzfests im Haus der Festspiele: Aki Takase und Alexander von Schlippenbach, seit fast 40 Jahren als Duo spielend. Es ist ein berührender Anblick, als beide Hand in Hand die Bühne betreten.

Der 85-jährige von Schlippenbach, elegant in schwarz, ist mit den Tasten wie verwoben, als er seine komplexen komponierten Miniaturen spielt. Takase, im langen Kleid, von dem die weißen Blattstrukturen herabzufließen scheinen, verbeugt sich mit ihrer als Requiem bearbeiteten Version von „Ida Lupino“, dem berühmten Song der gerade verstorbenen Carla Bley. Vierhändig beschließen die beiden ihren Auftritt mit stehenden Ovationen des Publikums.

Neben weiteren Verbeugungen des Jazzfests vor den Erneuerern der Improvisierten Musik, wie dem 83-jährigen Schlagzeuger Andrew Cyrille und dem 80-jährigen Posaunisten Conny Bauer, dessen Lebensleistung mit dem Albert-Mangelsdorff-Preis ausgezeichnet wurde, war ein weiterer Höhepunkt des Festivals, der sechsten Ausgabe unter Leitung von Nadin Deventer, der Auftritt des 79-jährigen Komponisten, Flötisten und Altsaxofonisten Henry Threadgill.

Würdigung Henry Threadgill

Threadgill gehört zur ersten Generation des Schwarzen Musiker*innen-Kollektivs AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians) in Chicago, deren Klangsprache alle nachfolgenden Musiker*innen-Generationen beeinflusst hat. Threadgill brachte seine mit Spannung erwartete Auftragskomposition „Simply Existing Surface“ auf die Bühne, die er für die Kollaboration seiner Formation „Zooid“ mit dem Ensemble Potsa Lotsa XL der Berliner Altsaxofonistin Silke Eberhard entwickelt hatte. Die Suite für 15 Mu­si­ke­r*in­nen bestand aus einzelnen, variabel verschiebbaren Modulen für einzelne Instrumentengruppen und Solisten.

Threadgill, der selbst Altsaxofon und Flöte spielt, hatte sich zwar im Vorfeld mit Silke Lange eine Dirigentin gewünscht, um sich auf sein eigenes Spiel konzentrieren zu können, übernahm dann jedoch spontan selbst die Regie und dirigierte von seinem Stuhl aus. In den ersten zehn Minuten noch vorsichtig mit der Komposition umgehend, wurde das Zusammenspiel dann flüssiger. Vor allem in den Soli konnten Silke Eberhard, aber auch der Trompeter Nikolaus Neuser und der Klarinettist Jürgen Kupke eigene Klangmodule bilden, die sich wie einzelne Zellen aus einem Organismus herauslösten und wieder integrierten.

Ein hochkomplex angelegtes Werk, das auch mit Klang- und Lautstärketexturen operierte, in dem das Ensemble über die 60 Minuten der Aufführung, die live im Radio übertragen wurde, immer mehr zur Einheit wurde. Das Werk zeigte Threadgill als den großen Komponisten, dessen Würdigung in Europa längst überfällig war.

Neben separaten Reihen innerhalb des Festivals, wie dem Chicago-Schwerpunkt „Sonic Dreams“ mit Mike Reeds „The Separatist Party“ und Ben LaMar Gay am Kornett, Marvin Tate am Mikrofon und dem Elektronik-Trio Bitchin Bajas, überzeugte die Programmierung der vier Konzerttage vor allem durch Auftritte junger Musikerinnen, wie der kanadischen Trompeterin Steph Richards, die am Freitag über verschiedene Gerüche improvisierte. Das übersetzte sich zwar nicht im Hören, jedoch wirkte Richards durch ihre hochintensive Spielpraxis dringlich und konzentriert.

Ebenso das neue Projekt „matter 100“ der Pianistin Kaja Draksler, das die slowenische Musikerin mit ihrer Band um Sängerin Lena Hessels, Punk-Gitarrist Andy Moor, Schlagzeuger Macio Moretti, Keyboarderin und Elektronics-Artist Marta Warelis und dem eine präparierte Drehleier spielenden Slowene Samo Kuti geprobt hatte.

Die dadaistischen Texte und die teilweise per Vokoder verzerrte Stimme Hessels wurde zur Hommage an Laurie Anderson und Meredith Monk, während der Wechsel zwischen Punkpassagen und den ineinandergreifenden Klängen von Drehorgel, Klavier und Noise-Elementen für großen Spaß sorgte. Im Anschluss zeigte die 23-jährige Tenorsaxofonistin Zoh Amba virtuoses improvisatorisches Können und körperlichen Einsatz.

Polyrhythmisches Gesamtkunstwerk

Mitreißend geriet auch die Aufführung des Red Desert Orchestra unter Leitung der französischen Pianistin Eve Risser, die ein polyrhythmisches Gesamtkunstwerk präsentierte. Herausragend dabei Trompeterin Susana Santos Silva, die auch an den Tagen davor mit Fred Frith zeigte, was abseits des Gewohnten mit der Trompete möglich ist.

Improvisation bleibt eben risikoreich, das macht sie so spannend. Eine Bestätigung waren ausverkaufte Konzerte in Berlin und glückliche Musiker*innen, die sich in den Pausen unters Publikum mischten und den Konzerten der Konkurrenz zuhörten. Ein Miteinander, das innerhalb einer gerade zersplitternden Welt eine kurze Utopie der Hoffnung lebte.

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