Wahllose Schüsse in die Menge

US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch legt umfassenden Bericht zu Massenaufstand im usbekischen Andischan vor. Zahl der Todesopfer ist weiter unklar

MOSKAU taz ■ Der Einsatz von Gewalt usbekischer Sicherheitstruppen in Andischan stand in keinem Verhältnis zu der Bedrohung, die von bewaffneten Männern auf der Massendemonstration ausging. Der brutale und wahllose Gebrauch von Schusswaffen sei in keiner Weise gerechtfertigt gewesen. Dies stellt die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fest, die gestern eine erste umfangreichere Untersuchung vorlegte, in der die Ereignisse vom 13. Mai als „Massaker“ bezeichnet werden.

Bei den Auseinandersetzungen mit den Sicherheitseinheiten starben durch den Einsatz von Schusswaffen und schwerem Militärgerät laut Regierungsangaben 173 Menschen. Zeugen berichten hingegen, dass bei dem Massaker weit mehr Menschen ums Leben gekommen sein müssten. So sei eine Gruppe von mehreren hundert Fliehenden in der Nähe der Schule Nummer 15 von Maschinenpistolensalven einer hinter Sandsäcken postierten Einheit fast vollständig niedergemäht worden. Genaue Zahlen konnte HRW nicht ermitteln, da die usbekische Regierung die Zusammenarbeit mit unabhängigen internationalen Beobachtern ablehnt. In der offiziellen Darstellung handelte es sich bei den Demonstranten um „islamische Fanatiker und Militante“. Ungeklärt ist, was mit den Leichen geschehen ist, die Angehörigen nicht übergeben wurden. Gerüchten zufolge sollen diese in Massengräbern in der Umgebung Andischans verscharrt worden sein. Dies bestätigte HRW nicht.

Am 13. Mai gingen in Andischan spontan 50.000 Demonstranten auf die Straße. Der Anlass war ein Prozess gegen 23 Geschäftsleute, die wegen vermeintlich islamistischer Umtriebe seit einem Jahr in Haft sassen. In der Nacht zuvor hatte eine Gruppe von Männern eine Kaserne überfallen, Waffen erbeutet und einige hundert Gefängnisinsassen gewaltsam befreit.

Die Demonstranten seien unbewaffnet gewesen, berichten Zeugen. Bewaffnete Rebellen hatten sich an den Rändern der Kundgebung postiert, deren Redner die Repressionen des Karimow-Regimes anprangerten und soziale Gerechtigkeit verlangten. Regierungstruppen eröffneten am Nachmittag das Feuer, ohne die Demonstranten vorher zu warnen. Durch die ersten Schüsse seien 50 Menschen getötet worden, ohne dass sich die Menge danach aufgelöst hätte. Daraufhin riegelten Einsatzkräfte den Platz vollständig ab und schossen auf alle, die den Ort verlassen wollten.

„Die usbekischen Behörden versuchen dieses Massaker zu vertuschen“, sagte HRW-Chef Kenneth Roth. Aussagen von 50 Opfern und Zeugen liegen dem HRW-Bericht zugrunde. Nur eine internationale Untersuchung, die Zugang zu allen Dokumenten habe, könne die ganze Wahrheit herausfinden, meinte Roth. HRW bestreitet nicht, dass die bewaffnete Gruppe der Aufständischen schwere Verbrechen begangen hat. Dennoch sei dies keine Rechtfertigung, massenweise Menschen zu liquidieren.

Inzwischen ist die Bevölkerung auch nicht mehr bereit, namentlich als Zeuge aufzutreten. Die Menschen seien von Sicherheitskräften des Regimes eingeschüchtert worden. HRW fand auch keine Hinweise, dass auf der Kundgebung islamistische Agitatoren aufgetreten seien. Demnach hätten die Redner nur Armut, Korruption und Unterdrückung angesprochen.

KLAUS-HELGE DONATH