Barocker Breakdance

Den Shootingstar des Falsetts möchte hier jeder sehen: Countertenor Jakub Józef Orliński tritt in der ausverkauften Philharmonie auf. Untermalt wird seine Gesangsdarbietung von Schauspiel und modernen Tanzmoves

Von Maxi Broecking

Es ist glatt auf dem Weg in die Philharmonie, die gefrorenen Flächen beim Überqueren der Straße glänzen im Licht der Straßenlaternen. Innen ein aufgeregt erwartungsvolles Stimmengewirr. Der große Saal mit 2.400 Plätzen ist ausverkauft. Jeder hier möchte den jungen polnischen Shootingstar des Falsetts sehen, diesen Countertenor, dessen Vivaldi-Arie „Vedrò con mio diletto“ des damals 27-jährigen in Aix-en-Provence 2017 auf Youtube über 11 Millionen mal geklickt wurde und der als Model und Breakdancer unterwegs war, bis er sich ganz auf den Gesang konzentrierte. 1990 in Warschau geboren, begann Jakub Józef Orliński als Chorsänger, studierte an der Juillard School in New York und an der Frédéric-Chopin-Musikuniversität in Warschau. Am 8. Oktober wurde er in Berlin mit dem „Opus Klassik“ als Sänger des Jahres ausgezeichnet, auf Instagram versorgt er seine 179.000 Follower mit Bildern, die ihn bei den Proben zeigen, beim Entspannen am Pool oder mit Breakdance-Moves.

Für sein aktuelles Programm „Beyond“ singt Orliński Arien und Rezitative der italienischen Barockmusik des 17. Jahrhunderts, einem ambitionierten Programm mit teilweise bisher nur wenig aufgeführten Werken, wie der Kantate „L’amante consolato“ der venezianischen Sopranistin und Barock-Komponistin Barbara Strozzi. Orliński beginnt mit der Arie „E pur io torno“ aus Monteverdis letzter Oper „L’incoronazione die Poppea“. Begleitet wird er von dem zehnköpfigen Barockensemble „il Pomo d´Oro“, benannt nach der gleichnamigen Oper von Antonio Cesti, die dieser 1966 anlässlich der Hochzeit von Kaiser Leopold I. und Margarita Teresa von Spanien als monumentales zehnstündiges Werk komponierte. Opulent und theatralisch, vor dem Hintergrund des erst kurz vorher beendeten Dreißigjährigen Krieges, der von unvorstellbarem Leid, Hungersnöten und Seuchen begleitet wurde. Orliński hat bereits mehrfach mit dem Ensemble gearbeitet, zuletzt in diesem Jahr mit „Facce d’amore“. Die „Beyond“-Europatournee begann Ende Oktober mit einem Konzert in der Warschauer Oper und endet am 6. Dezember in Turin. Für das kommende Jahr ist eine Nordamerika-Tournee geplant. Hauptsächlich geschrieben für die Karnevalszeit in Venedig, handelt das Programm von der Tragik unerwiderter Liebe, die mit übertriebener Darstellung das Publikum unterhält.

Zuerst kommt das Ensemble auf die Bühne, mit historischen Instrumenten, wie der Viola und Lira da Gamba, verschiedenen Lauten und Cembalo. Danach erscheint, ohne Scheinwerferlicht und, angelehnt an den venezianischen Zendale des Bauta-Kostüms, mit dem sich die Liebenden für ihre heimlichen Begegnungen unkenntlich machten, in einen dunklen Umhang gehüllt, Orliński. Er singt ohne Mikrofon mit einer überraschend dünnen Stimme, die sich erst im Laufe des Abends weiter entfaltet. Die einzelnen Stücke, teilweise nur wenige Minuten lang, werden zu einer einzigen langen, ununterscheidbaren Liebesklage, die Orliński mit theatralischen Gesten untermalt: Er fasst sich ans Herz, geht auf die Knie, ringt die Hände und wälzt sich auf dem Boden.

In den teilweise längeren Abschnitten, in denen das Ensemble ohne Gesangsbegleitung spielt, durchquert er barfuß den Publikumsraum, während er sich mit einem Lichtstab selbst beleuchtet. Was man sich von der Gesangsdarbietung gewünscht hätte, die Theatralik, Dramatik und Komik der Texte stimmlich zu artikulieren, geht in einer, nicht unbedingt geglückten, schauspielerischen Gestik unter die, um den Bogen des Barock in die Gegenwart zu spannen, in einigen von Orlińskis Breakdance-Moves mündet. Dem Saal jedoch gefällt es, mit mehreren Zugaben feierte das Publikum den jungen Popstar der Klassik.