Zentralratspräsident über Antisemitismus: „Erkenne dieses Land nicht wieder“

Wie können Jü­d:in­nen nach dem 7. Oktober besser in Deutschland geschützt werden? Ein Gespräch mit Josef Schuster vor der Innenministerkonferenz.

Portrait Josef Schuster

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Foto: Emmanuele Contini/imago

taz: Herr Schuster, seit dem Hamas-Massaker in Israel vom 7. Oktober reißen auch hierzulande antisemitische Vorfälle und Anti-Israel-Demonstrationen nicht ab. Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang warnt vor Anschlägen. Sie sind Gast auf der nun beginnenden Innenministerkonferenz, die sich damit beschäftigen wird. Welche Botschaft bringen Sie mit?

Josef Schuster: Dass sich die jüdische Gemeinden seit diesem 7. Oktober weiterhin in einer sehr angespannten Lage befinden, in einer Ausnahmesituation. Ich habe zuletzt gesagt und das gilt weiter: Ich erkenne dieses Land zuweilen nicht wieder. Was wir seit dem 7. Oktober auf deutschen Straßen erleben, hätte ich mir nicht mehr vorstellen können. Darauf wurde noch nicht ausreichend reagiert und es müssen weitere Maßnahmen folgen.

Der deutsche Arzt ist seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er ist zudem Vizepräsident des World Jewish Congress und des EuropeanJewish Congress.

Sie waren gerade erst in Israel, besuchten mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Kibbuz Be’eri. Nun ist die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas vorbei, der Militäreinsatz in Gaza geht weiter, Raketen fliegen auf Israel. Wie aussichtslos ist die Lage?

Es war für mich erst mal erschreckend zu sehen, mit welcher wirklich unmenschlichen Grausamkeit in diesem Kibbuz vorgegangen wurde. Die Terroristen hatten dort Feuer gelegt, und den Menschen in den Schutzräumen blieben nur zwei Varianten: Entweder in den Rauchgasen ersticken oder sie fliehen und werden erschossen. Unvorstellbar. Da habe ich vollstes Verständnis, wenn Israel sagt, die Hamas muss vernichtet werden. Ein solcher Terrorakt gegen Israel, mit 1.200 Toten, darf nie wieder passieren.

Ist das von Netanjahu ausgegebene Ziel, die Hamas zu zerstören und alle Geiseln zu retten, tatsächlich möglich?

Ich bin kein Militärstratege und habe nicht die Kenntnisse der israelischen Regierung, aber das kann ich nur inständig hoffen.

Zu welchem Preis kann eine Zerstörung der Hamas gelingen, was die Zivilbevölkerung in Gaza angeht?

Mir tut jeder Zivilist im Gazastreifen leid. Ich muss aber auch sagen, dass die Hamas dort offensichtlich nicht wenige Unterstützer hatte. Und dass die Terroristen die Zivilbevölkerung als Schutzschild in Geiselhaft nehmen. Ich verstehe, dass Israel wirklich alles dafür tun muss, um die eigene Bevölkerung zu schützen.

Und was folgt, wenn die Hamas wirklich besiegt wäre?

Im Moment sind alle Utopien einer friedlichen Lösung von der Hamas zerstört. In Teilen der israelischen Bevölkerung war ein Vertrauen dafür da, das ist jetzt weg. Einen Neuanfang kann es nicht mit der Hamas oder einer anderen terroristischen Vereinigung geben. Da braucht es einen völligen Schnitt, auch personell. Was mir aber Hoffnung gibt, ist, dass die Menschen aus Be’eri, die dieser Hölle entkommen konnten, den ausdrücklichen Willen äußerten, wieder dorthin zu ziehen und ihren Kibbuz wieder aufzubauen. Daraus kann eine friedliche Zukunft erwachsen, und das hätte man sich ja auch ganz anders vorstellen können.

Der Krieg strahlt auch bis nach Deutschland aus. Am Donnerstag beginnt Chanukka. Lässt sich angesichts dessen überhaupt feiern?

Es wird in diesem Jahr eine gedämpfte Stimmung geben. Wir werden unsere Kerzen entzünden, auch öffentlich wie am Brandenburger Tor in Berlin. Natürlich haben auch wir Juden am Jahresende des gregorianischen Kalenders ein Bedürfnis nach Einkehr und wollen das Jahr Revue passieren lassen. Wir werden unser Leben nicht durch Terror bestimmen lassen.

Ihr Zentralrat veranlasste in den Gemeinden gerade eine Umfrage zu den Folgen des 7. Oktober. 68 Prozent der befragten Führungskräfte erklärten darin, dass in den Gemeinden Angst vor Angriffen oder weniger Besucher festgestellt wurden. 43 Prozent sagten Veranstaltungen ab, 35 Prozent meldeten antisemitische Vorfälle.

Das sind dramatische Befunde. Die Gemeinden erhalten antisemitische Briefe, Mails oder Anrufe, es gibt tätliche Angriffe auf der Straße gegen Menschen, die als Juden zu erkennen waren. Das ist in dieser Intensität eine neue Qualität. Wobei mein Gefühl ist, dass es nicht unbedingt mehr Menschen sind, die antisemitisches Gedankengut mit sich tragen, aber dass diese Menschen lauter geworden sind und sich wieder trauen, Dinge zu tun und zu sagen, die man sich lange nicht getraut hat.

Israel ruft inzwischen zur Vorsicht bei Reisen nach Deutschland auf. Zu Recht?

Das hat Israel auch für Großbritannien und Frankreich getan, offenbar mit abstrakten Hinweisen auf Terroranschläge. Das wird nicht einfach so aus der Luft heraus geschehen, und vor dieser Gefahr haben ja auch die Bundesinnenministerin und der Verfassungsschutz gewarnt. Ich vertraue auf unsere Sicherheitsbehörden, dass es ihnen gelingt, diese Gefahren zu unterbinden.

Fühlen sich die Community und Sie ausreichend geschützt?

Ich persönlich bin in einer privilegierten Situation: Der Präsident des Zentralrats der Juden erhält seit Jahrzehnten Personenschutz. Bei den jüdischen Einrichtungen, den Gemeinden, Schulen oder Kindergärten, wurde bereits nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle 2019 der Schutz technisch und personell verstärkt. Das wurde nun noch einmal angepasst. Da geht es um schusssichere Türen und Fenster, Videoüberwachung oder uniformierte Streifen vor der Tür bei Veranstaltungen. Ein positiver Befund unserer Gemeindebefragungen war, dass sich dort 96 Prozent zufrieden mit der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden zeigten. Gleichzeitig gibt es die große Verunsicherung, sich öffentlich als Jude zu erkennen zu geben. Das ist eine Ambivalenz, die wir nicht nur zur Kenntnis nehmen dürfen.

Wo sehen Sie derzeit die größte Gefahr?

Der Antisemitismus, den wir gerade erleben, wird stark geprägt durch Taten von arabisch- oder türkischstämmigen Menschen in Verbindung mit der linken Szene. Da merkt man plötzlich, dass die politisch ganz linke und die politisch ganz rechte Seite gar nicht so weit auseinander liegen bei diesem Thema. Aber die These eines importierten Antisemitismus greift trotzdem zu kurz: Wir haben auch einen großen Anteil antisemitischer Delikte aus dem politisch rechtsextremen Lager.

Wie blicken Sie auf Hochschulen oder Kultureinrichtungen, wo zuletzt Anti-Israel-Parolen laut wurden?

Das beunruhigt mich sehr. Nach dem 7. Oktober habe ich dort zunächst dröhnendes Schweigen wahrgenommen, nun erleben wir offenen Antisemitismus – nicht überall, aber eben doch zu viel. Wenn mir eine jüdische Studentin sagt, dass sie sich in einer Berliner Universität nicht mehr traut, alleine auf die Toilette zu gehen, ist das unbegreiflich. Das darf es nicht geben.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser verbot zuletzt Betätigungen der Hamas und des Unterstützervereins Samidoun, ließ das Islamische Zentrum Hamburg durchsuchen, das als verlängerter Arm Irans gilt. Reicht das?

Das waren notwendige Schritte. Und beim IZH in Hamburg braucht es nicht nur Durchsuchungen, sondern auch ein Verbot. Mir scheint, dass Iran gerade das Seinige tut, diese Gefahr zu erhöhen und Dinge zu steuern – nicht zum ersten Mal. Und ich glaube, es wird auch noch weitere Verbote gegen Organisationen geben, die Hass gegen Israel schüren. Hier sollte das Bundesinnenministerium schnell Konsequenzen ziehen. Außerdem: Der abgeschaffte Expertenkreis Politischer Islamismus im Bundesinnenministerium muss wiederbelebt werden, aber in einer Konstellation, die wirklich lösungsorientiert gesellschaftliche Probleme angeht und nicht nur über Begrifflichkeiten diskutiert.

Berlin und Bayern verboten zuletzt auch die Parole „From the River to the Sea“, die ein Verschwinden Israels von der Landkarte bedeuten würde. War das ein richtiger Schritt?

Absolut. Und dieses Verbot muss auch bundesweit umgesetzt werden. Wenn Israel das Existenzrecht abgesprochen wird, wie es diese Parole tut, muss das unter Strafe gestellt werden. Hier braucht es eine rechtliche Nachschärfung. Es hat mich enttäuscht, dass sich die Justizministerkonferenz dazu zuletzt nicht durchringen konnte. Von der Innenministerkonferenz wird hier hoffentlich ein anderes Signal ausgehen. Nie wieder ist jetzt und nicht irgendwann, und das muss auch Konsequenzen haben.

Sie fordern eine Verschärfung des Versammlungsrechts. Wie könnte das aussehen?

Ich habe alles Verständnis für Menschen, die gerade auf die Straße gehen und sich Sorgen um die palästinensische Zivilbevölkerung machen. Das ist vom Demonstrationsrecht gedeckt und soll es auch bleiben. Aber da, wo es begründete Sorgen vor antisemitischen Handlungen gibt, muss es möglich sein, diese Aufzüge zu verbieten. Da ist aus meiner Sicht das Demonstrationsrecht verwirkt. Wir dürfen nicht erst abwarten, bis es eskaliert, sondern müssen das im Vorhinein unterbinden.

Würden Sie sich mehr Solidarität mit der israelischen und jüdischen Community wünschen?

Definitiv. In Teilen gibt es sie, auch in einer Intensität, wie wir sie noch nicht erlebt haben. Und ich freue mich über Veranstaltungen, wie eine am Sonntag vor dem Brandenburger Tor geplant ist, wo der Impuls nicht von einer Organisation, sondern aus der Bevölkerung kam. Aber in der Breite hätte ich mir angesichts des blutigsten Tags gegen Juden seit der Shoah mehr öffentliche Solidarität gewünscht.

Auch aus der muslimischen Community?

Auch von dort. Es gibt viele friedliebende Muslime, die nichts mit dem Terror zu tun haben wollen. Und ich verwahre mich auch dagegen, alle Muslime jetzt unter Generalverdacht zu stellen. Aber von den muslimischen Institutionen habe ich mehr erwartet. Da war nach dem 7. Oktober fast gar nichts hören oder eher Halbherziges. Mein Eindruck war auch, dass die Stellungnahmen nicht unbedingt in den Freitagspredigten verbreitet wurden, wo sie in erster Linie hingehören. Und auch Ditib sollten wir uns hier genauer ansehen. Der Verband steht unter staatlicher Aufsicht der Türkei, deren Präsident Israel einen Terrorstaat nennt. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Und auch das wäre eine Aufgabe für das Bundesinnenministerium, den Umgang mit Ditib von Grund auf zu prüfen und neu zu organisieren.

Glauben Sie, der 7. Oktober bleibt auch in Deutschland eine Zäsur?

Natürlich hoffe ich, dass wir wieder zu einer Normalität zurückkehren. Wobei ich einschränkend sagen muss, dass der Antisemitismus auch vor dem 7. Oktober in diesem Land schon seit Jahren anstieg, egal aus welcher Ecke. Aber natürlich wünschen wir uns, als Juden hier in Frieden leben zu können wie alle anderen auch.

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