Personal in der Kinder- und Jugendhilfe: Allein im Heim

Schleswig-Holstein operiert in stationärer Kinder- und Jugendhilfe mit Standards aus den 1980ern. Heute bräuchte man mehr Personal, aber das fehlt.

Jugendliche spielen in einem dunklen Raum mit großen Raum Tischtennis.

Jugendhilfe: Anbieter haben unterschiedliche Vorstellungen, was Bezahlung und Qualifikation des Personals angeht Foto:

KIEL taz | Zwei Kinder geraten sich in die Haare, ein drittes beginnt zu weinen, und die einzige Fachkraft im Raum wünscht sich, sie hätte vier Arme und zwei Köpfe – so in etwa sehe in vielen Kinderheimen der Alltag aus, berichten Ver­tre­te­r*in­nen des „Aktionsbündnisses Kindeswohl in Schleswig-Holstein“. Der Zusammenschluss, dem vor allem Anbieter und Verbände der kirchlichen und frei-gemeinnützigen Wohlfahrt angehören, setzt sich für mehr Personal in der stationären Jugendhilfe ein. Doch dazu bräuchte es landesweit gültige Standards, und der Weg dorthin ist weit.

„Die Perspektive ist so schlecht wie noch nie“, sagte Lutz Regenberg, einer der Sprecher des neuen Bündnisses, bei einem Pressegespräch in Kiel. Die Grundlagen der heutigen Arbeit seien in den 1980er-Jahren vereinbart worden. Damals möge es ausgereicht haben, dass sich eine Fachkraft um bis zu zehn Kinder kümmere. Doch die Anforderungen seien gewachsen, sagte Regenberg und nannte als Beispiele Inklusion und Partizipationsrechte der Kinder und Jugendlichen. Also brauche es mehr Personal, forderte Co-Sprecher Hasko Facklam: „Es muss Bezugspersonen geben und in den Kernzeiten zwei Kräfte pro Gruppe, damit jemand bei Krisen da ist.“

Auch für Verwaltungsaufgaben müssten Kräfte freigestellt werden. Damit erhofft sich das Bündnis eine Entlastung, um das heutige Personal zu halten und neues zu gewinnen. „Um Mitarbeitende zu finden, muss der Beruf attraktiver werden“, sagte Facklam. Die Bündnismitglieder befürchten das Schlimmste: „Wenn sich der Rahmen nicht ändert, verschwindet die stationäre Kinder- und Jugendhilfe“, so Regenberg.

Rahmen ist das Stichwort: 2017 kündigten die Kreise und kreisfreien Städte – die dafür zahlen, wenn Kinder oder Jugendliche in einem Heim leben – den Vertrag mit den Anbietern. Jahrelange Verhandlungen blieben ohne Ergebnis. Heute dienen die alten Regeln noch als Richtschnur, aber im Prinzip muss jedes Heim selbst mit dem örtlichen Jugendamt verhandeln. Das Sozialministerium, das nur indirekt beteiligt ist, wünscht sich eine Neuauflage des Landesrahmenvertrags und bietet seine „moderierende Unterstützung“. Doch die Verhandlungen sind schwierig.

Lange Heimtradition in Schleswig-Holstein

Schleswig-Holstein hat eine lange Heimtradition. In Zeiten der alten Bundesrepublik belegten die West-Berliner Jugendämter gern Plätze in kleinen Orten im Norden, wegen der guten Luft und der Ruhe, auch aus Hamburg und Süddeutschland kamen Kinder. An der strukturschwachen Westküste war Betreuung immer auch ein Wirtschaftsfaktor. Noch heute gibt es 7776 Plätze in „Heimeinrichtungen, familienanalogen Wohnformen und sonstigen betreuten Wohnformen“, teilt das Sozialministerium in Kiel auf Anfrage mit. Da sei der „Bedarf des Landes gedeckt“.

Vermutlich ist er sogar mehr als gedeckt. Denn in Schleswig-Holstein werden unterdurchschnittlich wenige Kinder stationär untergebracht, heißt es im Abschlussbericht des „Runden Tisches zur Situation der Heimerziehung in Schleswig-Holstein“ von 2016. Er gründete sich nach dem Skandal um die Friesenhof-Heime, in denen Kinder und Jugendliche „runtergemacht, schikaniert und gemobbt“ wurden, wie eine ehemals dort untergebrachte Bewohnerin berichtete.

Als die Fälle bekannt wurden, befasste sich der Landtag ausführlich mit dem Heimsystem. Nach damaligen Erkenntnissen belegen die Landes-Kinder nur gut die Hälfte der stationären Plätze, der Rest stammt aus anderen Teilen der Bundesrepublik. Ob das immer noch so ist, darüber gibt es weder aus dem Sozialministerium noch vom „Aktionsbündnis Kindeswohl“ eine eindeutige Antwort. Auch das liegt an der Struktur, in der „Kleinsteinrichtungen und Verbünde dominieren“, so der Bericht von 2016. Etwa die Hälfte der Plätze werden von privat-gewerblichen Einrichtungen angeboten.

Eben deshalb seien die Verhandlungen so schwierig, sagt Johannes Reimers, Referent für Jugend und Soziales beim Landkreistag Schleswig-Holstein. Denn nicht alle Anbieter hätten dieselben Vorstellungen, was Bezahlung und Qualifikation des Personals angehe. „Es ist interessant zu hören, dass das Aktionsbündnis die Standards erhöhen will“, so Reimers, der bestätigt, dass der Personalmangel zunehmend ein Problem darstellt: „Wir suchen händeringend Plätze, um die Kinder unterzubringen.“

Flexible Lösungen

Über die Forderungen des Aktionsbündnisses ließe sich nachdenken, wobei Reimers sich flexible Lösungen vorstellen kann: „In einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die allein durch die halbe Welt gereist sind, braucht es vermutlich keine Doppel-Besetzungen.“

Die Gründe, aus denen Mädchen und Jungen statt in ihrer Familie in einem Heim leben müssen, sind vielfältig: Ein Elternteil wird psychisch oder körperlich krank und kann sich nicht um die Kinder kümmern, Sucht oder familiäre Gewalt können eine Rolle spielen.

Im Corona-Jahr 2020 wurden in Schleswig-Holstein rund 2200 Kinder und Jugendliche wegen Gefährdung in behördliche Obhut genommen, darunter 418 unbegleitete minderjährige Geflüchtete.

Im Jahr 2022 ist die Zahl der sogenannten Inobhutnahmen stark gestiegen – antirassistische Initiativen in Berlin kritisieren, dass migrantische Familien besonders betroffen sind.

Das „Aktionsbündnis Kindeswohl“ wünscht sich mehr Fachkräfte in den Einrichtungen, eine Lohnerhöhung und eine niedrigere Belegungsquote der Plätze, .

Das Aktionsbündnis hat einen langen Vorlauf: Bereits vor sechs Jahren habe es erste Gespräche über Maßnahmen gegen die Personalnot gegeben, berichtet Sprecher Regenberg. Mit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit allerdings verärgerte das Bündnis, dem unter anderem die Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie und der Paritätische Wohlfahrtsverband angehören, die Gegenseite.

„Uns wurde zurückgemeldet, dass es nett gewesen wäre, erst mit kommunalen Spitzenverbänden zu reden, statt an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt Bündnis-Mitglied Murat Baydaş. Es gebe aber eine „hohe Bereitschaft, am Thema zusammenzuarbeiten“. So soll es im kommenden eine Tagung geben, auch Gespräche laufen weiter.

Wenn die Verbände sich mit ihren Forderungen durchsetzen, könnten einige der kleineren Heime schließen, weil sie nicht ausreichend Personal finden oder zahlen können. Das sehen weder der Landkreistag noch die Mitglieder des Aktionsbündnisses kritisch: „Wenn Gruppen schließen, können Fachkräfte in andere Gruppen gehen“, sagt Hasko Facklam.

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