Ex-Lehrer zum Umgang mit der Pisa-Studie: „Falsch und gefährlich“

Warum schneidet das deutsche Schulsystem bei Pisa so schlecht ab? Bildungsaktivist Philipp Dehne sagt: Auch wegen der schlechten Arbeitsbedingungen.

Nahaufnahme eines alten Schulranzenverschlusses.

Ganz schön abgenutzt: Schü­le­r:in­nen und Lehrkräfte leiden unter den Problemen im Bildungsbereich Foto: Sascha Steinach/imago

taz: Herr Dehne, die Pisa-Studie hat dem deutschen Bildungssystem gerade ein verheerendes Zeugnis ausgestellt. Die Politik erklärt den Leistungsabfall vor allem mit der Pandemie und der gestiegenen Heterogenität in den Klassen. Stimmen Sie zu?

Philipp Dehne: Ich finde es falsch und gefährlich, wenn die Politik die Ergebnisse jetzt auf die Pandemie und den hohen Anteil an Schü­le­r:in­nen mit Migrationshintergrund abwälzt. Diese Analyse greift viel zu kurz. Vor allem, weil sich die Probleme im Bildungsbereich ja schon länger deutlich zeigen. Die zementierte Ungleichheit, der krasse Personalmangel, das veraltete Schulsystem.

39, ist ausgebildeter Lehrer und Bildungsaktivist. Unter anderem engagiert er sich beim „Bildungsrat von unten“ und bei der Initiative „Schule muss anders“. Dehne war einer der Initiatoren des bundesweiten Bildungsprotestes am 23. September 2023.

Sie haben selbst mehrere Jahre als Lehrer in Berlin-Kreuzberg und -Neukölln gearbeitet. Wie haben Sie die Arbeitsbedingungen erlebt?

Als Mischung zwischen krasser Motivation und Überlastung. Die Kreuzberger Schule, an der ich vor allem gearbeitet habe, war stark armutsbelastet. Das Grundgefühl war: Ich sehe, dass viele meiner Schü­le­r:in­nen hier oder da dringend mehr Unterstützung bräuchten. Doch dafür reicht die Zeit einfach nicht – obwohl ich schon mehr arbeite. Das ist echt frustrierend. Diese Erfahrung machen aber viele Lehrkräfte.

Dazu kommen die gestiegenen Erwartungen an Lehrkräfte – Stichwort Nahostkonflikt. Können die Schulen das alles leisten?

Ich finde es wichtig, dass gesellschaftliche Konflikte und Krisen in der Schule behandelt werden. Viele Lehrkräfte sehen auch die Notwendigkeit, über den Nahost-Konflikt, über das Auseinanderdriften der Gesellschaft, über die Klimakrise zu reden. Nur sollen sie diese Themen on top machen, neben dem Stoff und den ganzen Verwaltungsaufgaben. Eigentlich brauchen wir ein Umdenken im Bildungssystem, das diesen lebensweltlichen Fragen dauerhaft mehr Zeit einräumt, nicht bloß dann, wenn Krisen gerade stark in den Medien sind.

Die Bil­dungs­mi­nis­te­r:in­nen prüfen gerade neue Ideen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK), um den Unterricht langfristig sicherzustellen. Unter anderem soll ein Ein-Fach-Master eingeführt, das Referendariat verkürzt und Assistenzlehrkräfte besser ausgebildet werden. Was halten Sie von den Vorschlägen?

Im SWK-Gutachten stehen viele gute Ansätze. Etwa, dass die Kultusministerkonferenz endlich ihre Bedarfsprognosen verbessern oder Theorie und Praxis in der Lehramtsausbildung besser verzahnen muss. Auch die Ein-Fach-Lehrkräfte können bestimmt helfen, mehr Personen für den Job in der Schule zu motivieren. Ein verkürztes Referendariat erschließt sich mir hingegen nicht. Gerade weil die Praxis im Studium zu kurz kommt.

Die SWK beklagt, dass die Lehrerausbildung in Deutschland mit durchschnittlich 6,5 Jahren zu lange dauert.

Die Frage ist doch eher, ob das Lehramtsstudium gut auf den Beruf vorbereitet. Und da sagen immer wieder Studierende, dass es das nicht tut, auch weil es zu weit von der Schulrealität weg ist und die Verzahnung von Theorie und Praxis zu oft nicht gelingt. Bevor man pauschal die Dauer der Lehrerausbildung kürzt, sollte man erst bei der Qualität und den Studienbedingungen ansetzen.

Der „Bildungsrat von unten“, in dem Sie sich engagieren, bezeichnet das SWK-Gutachten insgesamt als „praxisfern und mit blinden Flecken“. Was fehlt Ihnen?

Das SWK-Gutachten liest sich so, als ob ein höherer Anteil an akademischem Input die Lösung für die Probleme und Herausforderungen bei der Lehrkräftebildung wäre. Das bezweifle ich. Mir fehlt die Erfahrung aus der Schulpraxis. Der Arbeitsalltag an Schulen muss stärker berücksichtigt werden.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Die SWK analysiert unter anderem, dass zu wenige junge Menschen heute auf Lehramt studieren, und schlägt deshalb vor, verschiedene Gruppen zielgerecht anzusprechen. Das Augenmerk liegt also auf der Werbekampagne. Man könnte aber auch sagen: Wir verbessern die Arbeitsbedingungen an Schulen. Wenn der Beruf attraktiv ist, ist das die beste Werbung. Dazu aber kein Wort.

Manche Vorschläge sind aber auch sinnvoll, oder? Etwa, dass sich alle Leh­re­r:in­nen 30 Stunden im Jahr fortbilden müssen.

Den Vorstoß begrüßen wir im Prinzip. Aber auch er verkennt die Situation an Schulen. Wir haben Kolleg:innen, die aufgrund der Personalsituation total überlastet sind. Dazu kommt, dass viele Fortbildungen kaum einen Mehrwert haben. Ich höre immer wieder von Lehrkräften, dass ihnen die Angebote für ihren konkreten Schulalltag wenig bringen.

Kann es sein, dass Sie schlecht auf die SWK zu sprechen sind? Die Notmaßnahmen, die das Gremium im Januar gegen den Personalmangel empfahl, bezeichneten Sie damals als „Schlag ins Gesicht“ für die Lehrkräfte.

(lacht) Zu dem Urteil stehe ich. Schließlich liefen viele der Maßnahmen auf Mehrarbeit der Lehrkräfte hinaus, in einer Situation, in der die Belastung durch den Mangel eh von Jahr zu Jahr steigt. Gegen die SWK habe ich nichts. Wir wollen aber ins Gespräch gehen über ihre und über unsere Perspektiven. Kommende Woche trifft sich der Bildungsrat von unten auch mit dem SWK-Vorsitzenden, um sich auszutauschen.

Was die SWK vorschlägt, ist das eine. Was die Bil­dungs­mi­nis­te­r:in­nen umsetzen, steht auf einem anderen Blatt. Was würden Sie sich wünschen?

Ende Januar werden wir vom Bildungsrat konkrete Vorschläge machen. Generell fordern wir mehr Verbindlichkeit bei der Umsetzung von gemeinsamen Zielen, zum Beispiel über einen Staatsvertrag. Für die Lehramtsausbildung etwa gibt es bis heute keine klaren Regeln, wie viele Lehrkräfte jedes Bundesland ausbilden muss. Ein zweiter Wunsch wäre, dass wir über die Stundentafel reden. An vielen Schulen fallen jeden Tag Stunden aus. Trotzdem tun wir so, als könnten wir die heilige Stundentafel aufrechterhalten. Da müssen wir uns ehrlich machen und überlegen, wie man die vorhandenen Ressourcen besser aufteilen kann.

Und die 100 Milliarden Sondervermögen, die Gewerkschaften, SPD und Linke fordern?

Die braucht es! Wir brauchen aber auch das Bewusstsein, wie viel Deutschland anteilig in Bildung investiert. Wenn wir uns da an Ländern orientieren, die bei Pisa besser abschneiden, müssen wir ordentlich drauflegen. 50 Milliarden pro Jahr, wenn wir so viel ausgeben wie Dänemark. Wenn wir zu Norwegen aufschließen wollen, müssten wir jedes Jahr sogar 120 Milliarden Euro mehr ausgeben.

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