Weihnachten als Gast: Ich bin ein Weihnachtsschmarotzer

Früher hat sich unser Autor an Weihnachten gelangweilt, weil seine Familie nicht feiert. Heute genießt er als Gast alle Vorzüge ohne Verpflichtungen.

Gans, Rotkohl und Klöße auf einem Teller

Gans, Rotkohl und Klöße gegen Identitätszwang: ein ziemlich guter Deal! Foto: Christoph Schmidt/dpa

Früher mochte ich Weihnachten gar nicht. Weil meine Familie keine Weihnachten feiert und die Feiertage mich so gelangweilt haben. Heute liebe ich Weihnachten. Weil ich zum Weihnachtsfest anderer Menschen eingeladen werde und als Gast Vorzüge genieße, von denen Familienmitglieder nur träumen können.

Das Beste aus beiden Welten. So hatte der einstige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz mal den Koalitionsvertrag seiner ÖVP mit den Grünen genannt. Dabei passt diese Bezeichnung so viel besser zu meinen Feiertagen. Denn für mich bedeutet Weihnachten, dass ich das nehme, worauf ich Lust habe (gutes Essen, guter Wein, Geschenke), und darauf verzichte, worauf ich keine Lust habe (Streit, Stress, Geschenke kaufen – ich bin ja nur Gast).

Ich bin an Weihnachten das, wie sich die FDP einen Bürgergeldempfänger vorstellt: ein Schmarotzer, der alles bekommt und nichts dafür leistet – auch wenn es bei diesem schönen Fest natürlich um so viel mehr als Materielles geht, was ohnehin eine total überschätzte Kategorie ist, wie die postmateriellen Bürgergelddebatten erneut gezeigt haben.

Was mir dabei seit Schulzeiten zugute kommt, ist das Mitgefühl der linksliberalen Eltern von Freund:innen, das ich schamlos ausnutze. Es resultiert aus einer wilden Mischung aus Humanismus, Antirassismus und christlicher Nächstenliebe: Wenn wir schon nicht die Welt retten können, dann wenigstens einen proletarischen Ausländerjungen, wenn auch nur für ein paar Tage! In dieser Gedankenwelt bin ich so etwas wie Brot für die Welt, nur eben ohne lästiges Onlinebanking.

Erst das Weihnachtsfressen, dann die Moral

Diesen moralischen Ablasshandel kann man natürlich kritisieren. Schließlich macht er auch den Kern westlicher Entwicklungshilfe aus, die Ungleichheitsverhältnisse betoniert, statt sie abzuschaffen. Man kann natürlich auch eine Debatte über christliche Werte anzetteln. Aber haben wir das ganze Jahr über nicht genug gestritten? Wer bin ich Weihnachtsschmarotzer außerdem überhaupt, um diese netten Leute zu kritisieren, die mir zu essen und zu trinken geben? Und sowieso: Erst kommt das Weihnachtsfressen, dann kommt die Moral.

Doch auch ich habe, trotz aller Goodies, einen Preis gezahlt. Weil ich mich irgendwann entschieden habe, dieses christliche Fest mitzufeiern. Statt mit ihnen Jahr für Jahr durch leere Straßen zu streunen und über dieses blöde Weihnachten abzulästern, habe ich den Ärger meiner muslimisch sozialisierten Leidensgenossen auf mich gezogen. Was hätte ich tun sollen? Geteilte Langeweile ist doppelte Langweile.

Und wir konnten damals ja nicht mal in den Mediamarkt gehen, um die Vorführ-Playstation stundenlang zu besetzen, nur um danach wieder rauszugehen, ohne irgendetwas zu kaufen. Weil auch der Mediamarkt an Weihnachten zu hat. Heute findet man an Heiligabend selbst in einer so gottlosen Stadt wie Berlin kaum ein anständiges Lokal, das offen hat.

Mit dem Unmut kann ich mittlerweile aber gut leben. Auf den Vorwurf, ich würde meine religiöse und geografische Herkunft für Gans, Rotkohl und Klöße verkaufen, was eigentlich ein ziemlich guter Deal ist, entgegne ich mit Verweis auf ein populäres türkisches Sprichwort: „Nerede beleş oraya yerleş.“ Das lässt sich wortwörtlich etwas unschön mit „Wo es etwas gratis gibt, dort richte dich ein“ ins Deutsche übersetzen. Sinngemäß auf Schwä­bi­sch klingt es viel besser: Amma gschenkta Gaul guckt ma net ins Maul.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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