Platon und die Dosensuppe

Das Auge hängt am Hirn: Hubert Locher hat eine monumentale Geschichte der Kunsttheorien von der Antike bis zur Gegenwart verfasst

Von Robert Misik

Man begegnet heute mitunter der etwas banausenhaften Auffassung, die Kunst wäre zu kompliziert, verkopft. Eine weniger spießige Abart dieser Meinung ist die Ansicht, dass die Kunst heute „intellektueller“ sei als in früheren Zeiten. Wenn Hubert Locher gegen etwas in seiner monumentalen „Kunsttheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart“ anschreibt, dann gegen solche halbgaren Intui­tio­nen. Es gab und gibt niemals eine Kunstbetrachtung und Produktion, die nicht von „Theorie“ geleitet ist.

Das „unschuldige Auge“ gibt es nie. Selbst die maximal naturalistische Abbildung der Wirklichkeit wird als Abbildung, als Illusion erkannt. Der „pure Genuss“, Kants „uninteressierter Wohlgefallen“, kann niemals hinter die Tatsache zurück, dass die künstlerische Produktion eine Schöpfung eines Künstlers ist, immer schon Reflexion und Bearbeitung von Wirklichkeit, niemals die Wirklichkeit selbst.

Locher wollte eine überschaubare, knappe Einführung in die Geschichte der Kunsttheorien schreiben. Der Verlag wird gestöhnt haben, als nach jahrelanger Arbeit keine locker lesbare Einführung für die interessierten Laien, sondern ein gelehrter 600-Seiten-Ziegel herauskam, bei dem sich der Marburger Kunstgeschichtsprofessor auch die Entschuldigung nicht verkniff, auf dem knappen Raum so viel Wesentliches weglassen zu müssen. Aber wenn man das Buch durchhat, hat man von 2.500 Jahren Kunsttheorie nicht nur eine grobe Ahnung. Es ist auch eine spannende Reise durch die Abenteuer der Geistesgeschichte.

Vor allem die bildende Kunst stand immer vor der Frage: Reine Abbildung der Wirklichkeit oder Fiktion, Ideal, was auch immer? Die Plastiken der Antike orientierten sich, Platons Ideenlehre folgend, am Ideal. Künste, die auf Nachahmung der Naturerscheinung zielen, mussten „als von vornherein irregeleitet erscheinen“. Die Vorstellung herrschte vor, dass in der Natur ein „Ideal“ vorhanden sei, das aber in der Natur auch nur annäherungsweise realisiert wird. Die Kunst solle das Ideal darstellen, das Schöne, die perfekten Proportionen. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zum nächsten vertrackten Problem, dass nämlich, wie in der Natur, so auch in der Kunst, „das Ideal niemals gänzlich vollkommen realisiert“ werde.

Fertigkeiten der Künstler, Techniken, Regeln, die es zu beachten gelte, werden zum Gegen­stand der Theorien, ebenso der persönliche Stil des Künstlers. Durch die Jahrhunderte zieht sich auch die Grübelei über die Hierarchien der Künste und wie diese aufeinander einwirken.

Die Architektur, die einen praktischen Gebrauchsgegenstand produziert, ist sie niederer als Malerei oder Plastik? Was ist die höhere Kunstgattung? Die Malerei, weil sie auf die Räumlichkeit verzichtet, die Musik, weil gänzlich abstrakt, die Poesie, weil sie, mit dem Wort operierend, dem Geist am nächsten steht?

Da Kunst nicht ohne Kunsttheorie existieren kann, entstehen Institutionen. Die Kunstakademien. Die Kunstausstellungen ab dem 18. Jahrhundert. Die Kunstkritik. Mit dem Aufschwung von Pressewesen und Salonausstellungen entsteht der Beruf der Kunstkritiker, die Kategorien von Geschmack und Urteil entwickeln. Diderot, später Baudelaire schreiben legendäre Aufsätze über die jährlichen Kunstausstellungen. Der Begriff des „modernen Künstlers“ kommt auf. Der Fortschrittsgeist, der sowieso immer die Kunsttheorie durchwehte (im Sinne der stetigen Verbesserung und der Vorstellung von einander ablösenden Zeitaltern), wird beschleunigt durch den „Zwang zur Präsentation von Neuheuten“, wenn ein immer größeres Publikum in jährliche Ausstellungen strömt und die Kritik die Aufmerksamkeit auf „das jeweils Neue“ lenkt.

Hubert Locher: „Kunsttheorie“. C. H. Beck, München 2023, 592 Seiten, 58 Euro

Das Interesse für das Individuum und die Psychologie prägt die Kunst der Moderne (der Impressionismus malt nicht, was real ist, sondern wie die Künstlerperson die Realität empfindet), zugleich damit auch das Interesse für Innerlichkeit, für das, was im Künstler vorgeht, und die „Künstlernatur“ wird zum Rolemodel. Künstlerbiografien werden interessant, Künstlertagebücher und die Selbstauskünfte.

Irgendwann kommen die Künstlermanifeste in Mode, von Marinettis Futurismus bis Bretons Surrealismus, und große Kritikergötter, die ihre Herrschaft über die Interpretation eitel verteidigen.

Zuletzt übernimmt die Theorie noch mehr Macht, wenn Alltagsgegenstände – von Jasper Johns’ „Flagg“ bis Andy Warhols Suppendosen – zur Kunst werden, was nur möglich ist, wenn sie diskursiv in die „Artworld“ eingebettet sind. Theorie und Diskurs machen die Suppe zur Kunst.

Den Schlüsselsatz liefert vielleicht der Kritiker Arthur C. Danto: „Kunst ist eine Sache, deren Existenz von Theorien abhängig ist.“