Weder fröhlich noch selig

Die Weihnachtsfeiertage stellen für viele Menschen eine zusätzliche psychische Belastung dar. Doch psychosoziale Angebote sind schwer zu bekommen

Zwischen den Jahren herrscht großer sozialer Erwartungsdruck, fröhlich zu sein und gemeinsam mit anderen zu feiern   Foto: Cavan Images/Deepol/plainpicture

Von Lilly Schröder

Die Auswirkungen der Pandemie, steigende Kosten durch Inflation, die Angst vor einer Ausweitung des Ukrainekrieges, der Angriff der Hamas auf Israel: Für viele Menschen stellen die anhaltenden Krisen eine erhebliche psychische Belastung dar. Die emotional hoch aufgeladene Weihnachtszeit ist oftmals eine zusätzliche Herausforderung.

„Es herrscht großer sozialer Erwartungsdruck, fröhlich zu sein und gemeinsam mit anderen zu feiern“, sagt eine Sprecherin des Berliner Krisendiensts zur taz. Das erzeuge Stress, wodurch sich bestehende familiäre und Partnerschaftskonflikte zuspitzen können. Eine Sprecherin der Charité betont gegenüber der taz, dass Weihnachten für Personen mit psychiatrischen Krankheitsbildern eine Zeit sei, in der Einsamkeit und soziale Isolation oft noch stärker wahrgenommen würden. Betroffene wollten deshalb die Feiertage häufig im Kreis der Familie verbringen, sagt sie. Von den nicht zwangseingewiesenen Pa­ti­en­t*in­nen würden viele die stationäre Behandlung für die Weihnachtszeit unterbrechen. Andere blieben freiwillig.

Psychisch Erkrankte seien letztlich ein Abbild der Gesellschaft, sagt Michael Webers vom Vorstand des Vereins Kommrum, der betreutes Wohnen anbietet. „Manche Be­woh­ne­r*in­nen feiern zu Hause, manche tauchen zu Weihnachten komplett ab, ziehen sich zurück und meiden den Kontakt“, berichtet er.

Hilfesuchende können online Kontakt zu Beratungsstellen aufnehmen, etwa bei der Kontaktstelle Krisenchat. In akuten Notsituationen hilft der Berliner Krisendienst, der auch an Feiertagen erreichbar ist. Für Michael Webers von Kommrum eine „einmalige Einrichtung“. Vergleichbares gebe es in anderen Bundesländern kaum. Man könne stolz sein auf das Angebot in Berlin. Es sei breit gefächert und gut verzahnt. „Aber diese Strukturen haben ihre Grenzen.“

Stationäre oder ambulante Einrichtungen, Tageskliniken, Privatkliniken oder niedergelassene Psy­cho­the­ra­peu­t*in­nen – sie sind alle voll ausgelastet. Die Wartezeiten sind lang, die Stationen und Kliniken oft überbelegt. Dabei ist die Versorgungslage verhältnismäßig gut: Mit 63,4 Psy­cho­the­ra­peu­t*in­nen pro 100.000 Ein­woh­ne­r*in­nen weist die Hauptstadt bundesweit die höchste Versorgungsdichte bei der psychotherapeutischen Versorgung auf. In Mecklenburg-Vorpommern etwa liegt sie bei 16,4.

Allerdings besteht auch eine höhere Nachfrage. Berlin sei ein Sammelbecken für Menschen, die die Nischen der Großstadt suchten, weil sie mit ihren Besonderheiten woanders nicht zurechtgekommen seien, sagt Webers. Die Versorgung reicht dann auch vorn und hinten nicht, der Bedarf an The­ra­peu­t*in­nen steigt stetig, der Mangel an Behandlungsplätzen verschärft sich. In allen Bezirken gebe es einen höheren Bedarf als Angebote, so Webers. Hilfesuchende müssen im Schnitt fast 40 Tage auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch warten. Die Wartezeiten bis zum Psychotherapiebeginn betragen durchschnittlich drei Monate.

Das liegt Webers zufolge vor allem am Fachkräftemangel und an der Wohnungsnot. Auch für das betreute Wohnen von Kommrum gebe es lange Wartelisten, erzählt er. Hilfebedürftige mit eigenem Wohnraum könnten zwar meist innerhalb von vier Wochen aufgenommen werden. Für Menschen ohne Wohnraum liegen die Wartezeiten aber bei mehreren Monaten bis hin zu einem Jahr. So lange bleiben dann auch die psychischen Erkrankungen unbehandelt.

Was die Lage nicht einfacher macht: Viele Hilfebedürftige kämen aus der Obdachlosigkeit und wollten nach einer Verbesserung ihres Zustandes nicht wieder wohnungslos werden: „Man kriegt die Leute nicht raus, sogar wenn es ihnen gut geht“, sagt Webers. Bürokratische Prozesse, fragmentierte Gesetzgebungen und mangelnde Finanzierung kommen obendrauf.

Mehrfach marginalisierte Betroffenengruppen fänden nur schwer den Weg in das Versorgungssystem, berichtet eine Sprecherin des Krisendienstes. Wohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen oder auch traumatisierte Menschen mit Fluchterfahrung würden dabei häufig nicht erreicht.

Der Krisendienst und Kommrum fordern daher, den Zugang zu niedrigschwelligen Angeboten so einfach wie möglich zu gestalten. Dazu gehören psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen ebenso wie solche für Alkohol- und Medikamentenabhängige.

Einsamkeit und soziale Isolation werden noch stärker wahrgenommen

Das Problem liegt im System: Für eine Behandlung muss man krankenversichert sein, man braucht eine ärztliche Diagnose, eine Begutachtung, muss einen Antrag stellen und vieles mehr. Im besten Fall solle der Zugang aber anonym und ohne ärztliche Diagnose ermöglicht werden, findet Michael Webers.

Zudem brauche es dringend eine verlässliche Ausfinanzierung der sozialpsychiatrischen Pflichtversorgung. Die bestehende Zuwendungspraxis sei katastrophal. Es könne nicht sein, dass sie das jedes Jahr neu mit Senat und Bezirk aushandeln müssten. Von einer langfristigen Planungssicherheit könne so keine Rede sein. Stattdessen brauche es eine umfassende Unterstützung für ganzheitliche Ansätze, die von Prävention über niedrigschwellige Beratung bis hin zu mehr psychotherapeutischen Plätzen und kürzeren Wartezeiten in psychiatrischen Praxen reichen, fordert etwa Krisenchat.

Nötig sei auch ein stärkeres gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für Einsamkeit und deren Folgen. Dafür brauche es mehr ehrenamtliche Angebote, um einsame Menschen in ihrer Nachbarschaft stärker zu integrieren, so der Krisendienst.