Wolfgang Schäuble sitzt ganz allein im Deutschen Bundestag

Foto: Christian Spicker/imago

Zum Tod von Wolfgang Schäuble:Der ewige Parlamentarier

Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ist mit 81 Jahren verstorben. Vier Perspektiven auf eine politische Karriere.

27.12.2023, 18:13  Uhr

Der Wiedervereiniger (Klaus Hillenbrand)

Die „schwarze Null“ (Ulrike Herrmann)

„Ich bin kein besserer Mensch“ (Barbara Dribbusch)

Konservativ mit Augenmaß (Jan Feddersen)

Der Wiedervereiniger

Er hat sie alle überholt. Selbst August Bebel, der große Sozialdemokrat, kam nicht auf eine so lange Zeit als Parlamentarier, damals im Reichstag von Kaiser Wilhelms Gnaden. Bebel gehörte dem Parlament von 1867 bis 1881 und von 1883 bis 1913 an. Wolfgang Schäuble war 51 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestags, seit 1972 und bis zu seinem Tod. 1972, das war übrigens das Jahr, als die SPD unter Willy Brandt bei den vorgezogenen Bundestagswahlen sagenhafte 45,8 Prozent erhielt. Also wirklich schon sehr lange her.

Wolfgang Schäuble war da gerade 30 Jahre alt geworden. Ein aufstrebender junger Mann aus gutem Hause, wie man damals so sagte. Der Vater, Prokurist und als evangelischer Konservativer der CDU angehörig, war zeitweise Landtagsabgeordneter. So kam es, dass der junge Jurastudent Wolfgang Schäuble schon 1961 der Jungen Union beitrat und später, als andere gegen den Muff der besudelten bundesdeutschen Elite auf die Straße gingen, den das Land regierenden Christdemokraten.

Aber nicht der CDU-Abgeordnete Schäuble ist es, der in der politischen Geschichte in Erinnerung bleiben wird, obwohl der gebürtige Freiburger sogar als Bundestagspräsident – und zuletzt ganz selbstverständlich als Alterspräsident – des deutschen Parlaments fungierte. Sondern der Mann, der die deutsche Wiedervereinigung managte und der mit dafür sorgte, dass Bonn als Hauptstadt des westdeutschen Teilstaats durch Berlin als neues, altes Zentrum des Landes abgelöst wurde.

Schäuble arbeitete damals unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in einer schwarz-gelben Koalition als Bundesinnenminister. Deshalb fiel ihm nach dem Fall der Mauer die Aufgabe zu, zusammen mit dem zu Recht ziemlich vergessenen Günther Krause auf DDR-Seite den Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten zu verhandeln. Der bestimmte, dass sich die DDR auflöste und zugleich der Bundesrepublik beitrat. Eine für diesen Fall eigentlich vorgesehene Volksabstimmung fand nicht statt.

Es hat damals nicht an Kritik an diesem Vertrag gefehlt, gerade von links. Manche Menschen in der DDR hofften auf einen dritten Weg, jenseits von Kapitalismus und Staatssozialismus. Viele Zeitgenossen im Westen wiederum konnten schon mit der Begrifflichkeit der Wiedervereinigung nicht allzu viel anfangen. „Droht die Wiedervereinigung?“, fragte damals der Grüne Joschka Fischer besorgt in der taz. Schäuble hat die Politik der raschen Vereinigung immer verteidigt. Dem Spiegel sagte er 2019: „Kohl hat instinktiv richtig gehandelt, ist in Europa achtsam aufgetreten und hat den Menschen hier viel Hoffnung gemacht. Heute könnte man vielleicht sagen, er hat ihnen zu viel Hoffnung gemacht.“

Die Frage, wo Regierung und Parlament künftig ihren Sitz haben sollten, wurde im Einigungsvertrag wohlweislich ausgeklammert, denn zu zerstritten waren Politik wie Volk. Deshalb musste der Bundestag am 20. Juni 1991 entscheiden. Es war Wolfgang Schäuble, der mit seiner Rede wohl den Ausschlag gegen das ursprünglich favorisierte Bonn gab. „Für mich ist es – bei allem Respekt – nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin. In Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands“, sagte der vehemente Berlin-Befürworter. Am Ende stimmten 320 Abgeordnete für Bonn, aber 338 votierten für Berlin.

Im selben Jahr gab Wolfgang Schäuble den Posten des Bundesinnenministers auf und avancierte zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Es ist bis heute der machtvollste Posten, den die Union jenseits einer Regierungsbeteiligung zu bieten hat. Und Schäuble, der seine Karriere bis dahin zuallererst Helmut Kohl zu verdanken hatte, blieb der Mann, auf den sich der 1990 wiedergewählte Bundeskanzler verlassen konnte, in Details wie bei den ganz großen Themen.

Schwarz-Weiß Aufnahme von Wolfgang Schäuble aus dem jahr 1989. Er raucht Pfeife

Wolfgang Schäuble, Bundesinnenminister, zu Beginn eines Parteitags der Baden-Württembergischen CDU im April 1989 Foto: Harry Melchert/dpa

Kohl wusste, was er dem getreuen Schäuble zu verdanken hatte. Erinnert sei hier nur an die Revolte von Heiner Geißler und Lothar Späth gegen den CDU-Chef im Sommer 1989, als niemand den Fall der Berliner Mauer vorausahnen konnte. Damals hatte Kohl den liberalen und wiederborstigen Geißler als CDU-Generalsekretär abgesägt. Der verschwor sich mit dem Baden-Württemberger Späth, auch eine gewisse Rita Süssmuth soll damals mit von der Partie gewesen sein. Doch Kohl – und sein Verbündeter Schäuble – beendeten den Spuk noch vor dem Bremer Parteitag.

So schien die Macht Ende der 1990er Jahre auf Wolfgang Schäuble quasi wie von selbst zuzulaufen, zumal Kohl zunehmend Verschleißerscheinungen bei seiner ewigen Kanzlerschaft zu zeigen begann. „Zu gegebener Zeit“, so Kohl 1998, werde Schäuble sein Nachfolger im Kanzleramt werden. Der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) assistierte, Schäuble sei für „jedes herausragende Amt in der deutschen Politik qualifiziert“. Dummerweise aber wollte Kohl es 1998 noch einmal selbst wissen – und verlor die Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder (SPD). Das war’s mit der Kanzlerschaft für Schäuble.

Der nächste Schlag ereilte ihn im Zug der CDU-Parteispendenaffäre. Zwar durfte sich Schäuble nach Kohls Abgang als CDU-Vorsitzender sonnen, doch im Zug der nie aufgeklärten Affäre um die schwarzen Kassen der Union ging seine Autorität verloren. Eine 100.000-Mark-Spende eines bekannten Waffenhändlers, von Schäuble verwaltet, brachte ihn um Amt und Würden. Erst da, als es ihm nichts mehr nützte, brach Schäuble mit Kohl. Von einem „Machtkampf“ bis zur „Vernichtung“ seiner Person sprach Schäuble später. Seine Nachfolgerin wurde eine aufstrebende Politikerin aus dem Osten, der die alte Garde der ­West-CDU nicht viel Vertrauen entgegenbrachte: Angela Merkel.

Schäubles Karriere war damit nicht beendet. Er wurde erneut Innenminister und von 2009 bis 2017 Finanzminister. Aber die höchsten Staatsämter blieben ihm verschlossen. 2004 sorgte Merkel dafür, dass nicht Schäuble neuer Bundespräsident wurde, sondern der später eher unglücklich agierende Horst Köhler. Schäuble aber erklärte später, auf den Posten gar keinen großen Wert gelegt zu haben. Das kann man glauben oder auch nicht.

In einem seiner letzten Interviews sprach Schäuble im Oktober über seine Partei, die CDU: „Das C im Namen der CDU drückt aus, dass wir Politik für den Menschen machen, so wie er ist, und nicht wie er sein sollte“, sagte er. Am 26. Dezember ist Wolfgang Schäuble im Alter von 81 Jahren im Kreise seiner Familie verstorben.

Klaus Hillenbrand

Die „schwarze Null“

Wolfgang Schäuble war ein überzeugter Europäer. Auf seiner Homepage hieß es gleich ganz vorn: „Wenn es Europa gut geht, geht es auch Deutschland gut.“ Trotzdem war es ausgerechnet Schäuble, der Europa fast zerstört hätte – durch seine engstirnige Sparpolitik in der Eurokrise. Sie hat einen Schaden von Hunderten Milliarden Euro hinterlassen und zugleich die AfD gestärkt. Schäuble war von 2009 bis 2017 CDU-Finanzminister. Kaum hatte er sein neues Amt angetreten, fiel im Frühjahr 2010 auf, dass die drei Eurostaaten Griechenland, Portugal und Irland völlig überschuldet waren. Vor allem Griechenland war ein Problem: Die Staatsausgaben und die Importe lagen viel zu hoch, während die Steuer­moral niedrig und die Finanzstatistik zum Teil gefälscht war. Es gab keinen Zweifel, dass sich der griechische Staat reformieren musste. Aber Schäuble übertrieb es mit seiner Besserwisserei. Im Süden Europas, inklusive Frankreichs, wurde er dadurch zum Inbegriff des arroganten Deutschen.

Schäuble war Jurist und mit ökonomischen Problemen überfordert. In der Eurokrise agierte er nach dem Motto: Wer Schulden hat, ist schuld. Also war für ihn klar, dass Griechen, Portugiesen, Spanier und Italiener für ihre Kreditberge bestraft und zur Sparsamkeit gezwungen werden mussten. Doch die permanente Kürzungsorgie brachte nichts: Da die Wirtschaft in den Krisenländern einbrach, wurden die Schulden noch größer und nicht etwa kleiner.

Vor allem Griechenland erlebte einen beispiellosen Absturz, sodass am Ende etwa 25 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos waren. Im Januar 2015 kam dann die linkspopulistische Syriza an die Macht, weil sie versprochen hatte, den harten Sparkurs zu beenden. Neuer Finanzminister wurde Yanis Varoufakis, der sich an keinerlei diplomatische Konventionen hielt.

Unter anderem schnitt Varoufakis heimlich Sitzungen mit, und diese Aufnahmen belegen eindeutig, dass die heutige EZB-Chefin (damals Direktorin des Internationalen Währungsfonds) Christine Lagarde und Schäuble genau wussten, dass die Sparprogramme für Griechenland ein Desaster sind. So räumte Lagarde beim ersten Treffen mit Varoufakis ein: „Sie haben recht. Die Vorgaben können nicht funktionieren. Aber Sie müssen verstehen, dass wir zu viel in dieses Programm investiert haben. Wir können es nicht aufgeben.“ Auch Schäuble sagte ganz offen, dass das Sparprogramm „schlecht“ für Griechenland sei. „Es ist nicht gut fürs Wachstum.“ Aber Schäuble hatte längst andere Pläne. Er wollte die Griechen dazu bringen, vorübergehend die Eurozone zu verlassen. „Sie müssen es nicht als einen Grexit sehen“, erklärte er Varoufakis. „Betrachten Sie es als eine Pause.“ Etwa ein Jahr lang sollten die Griechen ihre eigene Währung haben, um abzuwerten und wieder wettbewerbsfähig zu werden. „Danach kommen Sie wieder zurück.“

Schäuble stellte sich den Euro also wie die Drehtür eines Kaufhauses vor: Man tritt ein, wieder aus, und irgendwann wieder ein. Doch so funktioniert die Gemeinschaftswährung nicht. Wären die Griechen zur Drachme zurückgekehrt, und sei es für kurze Zeit, wären sie sofort zum Spielball der Finanzmärkte geworden. Die Spekulanten hätten gegen die Drachme gewettet, sodass ihr Kurs ins Bodenlose gefallen wäre. Griechenland hätte sich dringend nötige Importe wie Öl oder Medikamente nicht mehr leisten können.

Zum Glück kam es nicht zum „Grexit“, aber Schäubles Drohung reichte völlig, um europaweit Chaos zu stiften und Milliardenschäden zu hinterlassen. Sobald es nämlich denkbar wurde, dass ein Land die Eurozone verlassen könnte, begannen sich die Anleger zu fragen, ob noch andere Eurostaaten gefährdet sein könnten. Also begannen sie, ihre Papiere aus Italien, Spanien und sogar Frankreich abzustoßen, was wiederum die Zinsen für diese Länder in die Höhe trieb. Vor allem Italien war plötzlich dem Bankrott nah, obwohl es solide gewirtschaftet hatte.

Doch Schäuble blieb stur. Dabei war seine Position unlogisch: Er war gern Finanzminister eines „Exportweltmeisters“, aber ein Überschuss im Außenhandel ist nur möglich, wenn anderswo ein Defizit existiert. Deutschland lebte davon, dass andere Länder Schulden machten, aber genau diese Schulden wollte Schäuble bestrafen.

Internationale Ökonomen waren entsetzt, wie ahnungslos Schäuble in seinem Grexit-Wahn agierte. Der US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman urteilte damals: „Schäuble lebt in einem Paralleluniversum. Niemand glaubt diesen Unsinn in den internationalen Organisationen.“ Da Schäuble die Eurokrise unablässig verschärfte, drängte sich bei vielen Deutschen der Eindruck auf, dass der Euro nicht funktionierte – was Gratiswerbung für die AfD war. 2013 wurde sie als Anti-Euro-Partei gegründet und zog 2017 erstmals mit 12,6 Prozent der Stimmen in den Bundestag ein.

Die AfD profitierte zudem davon, dass Schäuble auch im Inland rigide sparte. Schäuble hatte die Schuldenbremse zwar nicht erfunden, sondern sie stand schon im Grundgesetz, als er Finanzminister wurde. Aber er glaubte hingebungsvoll an die „Schwarze Null“. Also erhöhte er den Etat auch nicht, als eine Million syrische Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Damit sendete er das fatale Signal, dass sich Deutschland die Zuwanderer nicht leisten kann. Gratis lieferte er die Scheinargumente, mit denen Rechtspopulisten dann Ängste schüren konnten.

Schäuble war beliebt bei den Deutschen, aber er hat dem Land und Europa schwer geschadet. Dabei hätte die SPD die Macht gehabt, seine zweite Amtszeit zu verhindern. 2013 kam es zu einer Großen Koalition, und SPD-Chef Sigmar Gabriel hätte das Finanzministerium beanspruchen können. Aber er traute sich das Amt nicht zu. Und so konnte Schäuble als „schwarze Null“ noch vier weitere Jahre agieren.

Ulrike Herrmann

„Ich bin kein besserer Mensch“

Ein Mann im Rollstuhl vor einer holzvertäfelten Wand

Wolfgang Schäuble, Bundesinnenminister auf dem Weg zu Verhandlungen über Gehälter im öffentlichen Dienst, Potsdam, 31.03.2008 Foto: Hannibal Hanschke/reuters

Sechs Wochen lag das Attentat erst zurück, da rollte Wolfgang Schäuble, Bundesinnenminister, in einem blauen Trainingsanzug zu einer improvisierten Pressekonferenz in der Rehaklinik bei Karlsruhe. Er rollte eigenhändig. „Es geht mir den Umständen entsprechend gut. Ich hoffe, so bald wie möglich in Bonn meine Arbeit wieder aufnehmen zu können“, sagte er. Das war im Herbst 1990, Schäuble war damals 48 Jahre alt. Ein verwirrter Mann hatte Schäuble mit zwei Schüssen in Kiefer und Rückenmark schwer verletzt, und Deutschland hatte seinen ersten Bundesminister im Rollstuhl.

„Ich wollte keine Sonderkonditionen, gerade im Hinblick auf den politischen Wettbewerb“, sagte er Jahrzehnte später dem Berliner Tagesspiegel. Und Schäuble wurde zum Beweis, dass die Behinderung eines Politikers nicht mehr automatisch bedeutet, dass dem Menschen nur noch Schwäche zugeschrieben wird. Im Gegenteil. Schäuble wurde zum Beispiel für Resilienz. Das war noch anders gewesen, etwa in den 30er Jahren in den USA: Die Beinstützen des stark gehbehinderten US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt wurden unter seinen Hosen verborgen, Fotografen durften keine Bilder von Roosevelt im Rollstuhl machen.

Schäuble aber räumte selbst einmal ein, dass ihm das Image des Politikers, der einen schweren Schicksalsschlag erlebt und überlebt hat, womöglich sogar nützte. Seine berühmte Rede vor dem Bundestag 1991, wo er für Berlin als künftige Hauptstadt plädierte, sei vielleicht auch deswegen so gut angekommen, weil er damals „im Rollstuhl noch viel erbarmungswürdiger“ ausgesehen habe als heute, sagte er mal in einem Fernseh­interview. Diesem blassen, schmalen Mann im Rollstuhl traute man nichts Unedles zu, er wirkte visionärer als die Bonn-Verfechter, die an Pendlerstress und Umzugskosten durch eine mögliche Verlagerung der Hauptstadt dachten. Schäuble aber wollte nie einen moralischen Bonus wegen seiner Behinderung. Diese habe ihn „nicht zu einem besseren Menschen“ gemacht, sagte er einmal. Was wohl auch stimmte.

Barbara Dribbusch

Konservativ mit Augenmaß

Was genau das sein soll, „konservativ“, hätte Wolfgang Schäuble auch nicht in mathematischer Präzision sagen können. Die CDU, seine politische Heimat, sei eine Partei, die sich aus christlichen, soziallehreartigen, liberalen und auch wertkonservativen Gehalten speise – und aus den Lehren der nationalsozialistischen Verhältnisse geboren worden sei. Eine politische Formation, die Maß und Mitte, jedenfalls aber keine „Übertreibung“ zu vertreten habe. Die Union, so der seine Partei viele Jahrzehnte mitprägende Politiker, habe den Fortschritt, das Andere, das Neue zu moderieren, nicht das Moderne anzustoßen. Er selbst entstammt besten bürgerlichen Verhältnissen aus Freiburg, Breisgau, hineingewachsen in eine Familie honoratiorenhafter Bürgerlichkeit, fern aller Armut in welcher Hinsicht auch immer, in eine politische Sphäre beruflicher Wege, die auf Aufstieg orientiert sind, auf gediegene Karrieren, die nicht auf Volkstribunalität setzten, auf Charisma und politische Egozentrik.

Sondern auf das, was karikaturesk am Baden-Württembergischen gern als „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ verstanden wird. Solide Architekturen in jeder Hinsicht, familiär und politisch. Nicht umsonst verstand sich dieser Politiker, sei es gegenüber den früheren Bundeskanzlern Helmut Kohl als auch Angela Merkel, als „loyal“, was nicht als Untertänigkeit missverstanden werden durfte. Schäuble galt in seinem Milieu schon fast als gelegentlich charakterlicher Grenzfall, weil er – der unbedingten Ehrgeiz, intellektuell wie politisch, von seinen Umfeldern verlangte – scharf und schroff werden konnte, wenn da einer nicht auf der Höhe des (beispielsweise: intellektuell) Verlangten sich bewegte.

Er war Demokrat durch und durch. Ein bundesdeutscher Demokrat, der kaum mehr fürchtete als das, was aktuell politisch die Sache ist und bleibt: eine Partei wie die AfD, die wesentlich im Trüben des rechten Bevölkerungsspektrums fischte, deren Ressentiments, Vorstellungen und Fantasien noch bis weit in die nuller Jahre von der Union (geringer, aber doch auch von der SPD) programmatisch und politisch mit bewirtschaftet wurde. Schäuble hatte diesen Rechtspopulismus immer für integrierbar gehalten in die, wie man über die Empirien der Soziologen Steffen Mau und Thomas Biebricher weiß, vier Fünftel des bundesdeutschen Mainstreams, der für extremistischen Schutt nichts übrig hat.

Schäuble, so musste man ihn verstehen, hielt den Aufstieg der AfD auch (nicht nur) für ein Resultat der asymmetrischen Wahlkämpfe seiner Partei unter Kanzlerin Merkel, auf ihre diskursiv für unnötig gehaltene Erregung im Stile von „Sie kennen mich“!

Schäuble mochte Disput, er schätzte den Streit, ob mit den Sozialdemokraten oder den Grünen, weil er demokratiefördernd ist, weil er Standpunkte klärt und eben politische Atmosphären klärt. Er ließ sich auch gern, beispielsweise, zum taz-Kongress einladen, 2009, als er auf dem Podium mit Jürgen Trittin unter anderem zu den ersten schwarz-grünen Koalitionsüberlegungen ausbrachte, am liebsten alliiere seine Union in einer Koalition mit sich selbst – da gäbe es genug Stoff im Dissens. Was auffiel: wie umgänglich Wolfgang Schäuble war, wie sehr er darauf achtete, dass die Helfenden, die ihn, den im Rollstuhl sich Bewegenden, auf jede Unebenheit hinwiesen, von ihm mit mehr als jovialer, mit größter Herzlichkeit behandelt wurden. „Seien Sie vorsichtig“, rief er den Leuten vom Sicherheitsdienst zu, „der Boden kann uneben sein!“

Mit größter Freude sprach er über Parlamentarier, die sich nicht als Abgestellte ihrer Parteien empfanden, sondern als solitäre Akteure etwa auf den Positionen des Bundestagspräsidiums saßen. Petra Pau fand er mehr als respektabel, sowieso Antje Vollmer, deren Partei, die Grünen, ohnehin. Kein „Wunschpartner“, so äußerte der Unionsmann immer wieder, aber eine Partei, mit der sich Politik machen ließ. Sozialdemokraten gehörten für ihn selbstverständlich zum verfassungspatriotischen Setting, Feindschaftliches war ihm politisch fremd – es ging ihm darum, im politischen Gegner zu erkennen, was ihn erfolgreich macht.

Er wird fehlen, zumal und im Konkreten besonders, wenn im kommenden Herbst in Thüringen nur eine Koalition aus Linkspartei und Union möglich wäre, um sich dem Gift der AfD zu entziehen: Er hätte vermitteln können, dass Bodo Ramelow ein reschpektabler Mann sei – und seine Partei zwar nicht die Union sei, aber doch demokratisch, also stubenrein.

Im Übrigen diskutierte er nicht darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht. An Tatsachen lasse sich nicht deuteln, so sein Credo. Rassismus, diese kleine Münze von Engstirnigen, war ihm, ausweislich aller getätigten Äußerungen, fremd. Konservative könnten die Welt nicht anhalten, aber sie können verständlich machen, wie ein gemeinsames Leben in Änderung mit „Augenmaß“ ­gehen könnte.

Von ihm konnten Linke lernen, politisch bei sich zu bleiben, also dem Denken in Freund-Feind-Schemata zu entkommen, aber auf das Eigene zu beharren, um so erst Politik, linkerseits immer mit dem Anspruch, die Verhältnisse mehr als nur in Maß und Mitte zu halten, zu ermöglichen.

Jan Feddersen

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