berliner szenen Ins Blaue hinein

Jazz in Marburg

Es war einmal ein gescheiterter Gitarrist um die 30, der blickte aus seinem Wohnzimmerfenster. Plötzlich waren da nicht mehr die Mülltonnen des düsteren Neuköllner Innenhofs zu sehen, sondern bewaldete Hügel, wie sie sich an der Lahn entlang erheben. „Wie komme ich jetzt auf einmal nach Marburg?“, fragte er sich, während im Hintergrund das Adagio aus Anton Bruckners 6. Sinfonie die Tragik des Moments auf die Spitze trieb.

Wenige Tage später stolpert er durch die Gassen. In einem muffigen Jazzkeller gastiert ein Jazz-Trio aus Berlin, Carlos Bica’s Azul. Wahrscheinlich wird es hier das letzte gute Konzert bis zum Herbst sein, denkt er, und so geht er hin. Er belauscht die Gäste. Vor ihm fachsimpelt ein lokaler Redakteur mit zwei Studenten. Der eine gibt sich als Historiker zu erkennen. „Das, was die hier bringen, ist schon cool“, sagt er, und auch die anderen gehen sichtlich gut mit.

Für den Großstädter sind die Herren auf der Bühne alte Bekannte. Irgendwann in den frühen Neunzigern hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Schon damals war das abstrakte Akkordspiel des Gitarristen beeindruckend: klirrendes Schrammeln, per Volume-Pedal aus der Ferne vage herangerückte Töne.

Das Schlagzeugspiel wird zur puren Zauberei, während vorne der atemlos zuhörende Mann im Rollstuhl sein Bier ruhig durch einen Strohhalm einsaugt und der Mann mit den schwarz lackierten Fingernägeln nebenan sein Tagebuch schreibt. Als der Sound dank einiger gitarristischer Delays auch noch orchestral anschwillt, ertappt sich der Zugezogene dabei, wie sich seine Augen mit Tränen füllen. So weit ist Berlin doch gar nicht weg. Und solange man die Musik nicht vergisst, geht alles. Irgendwie.

JAN SÜSELBECK