Eine historische Schwarz-Weiß-Aufnahme von Soldaten auf den straßen von Nikosia, Zypern

Foto: Topfoto/United Archives/imago

„Blutiges Weihnachten“ in Zypern:Versöhnliche Knochen

Am 21. Dezember 1963 eskaliert die Gewalt zwischen griechischen und türkischen Zyprioten. Eine gemeinsame Initiative sucht jetzt nach den Vermissten.

Ein Artikel von

Aus bellapais, nikosia, 21.12.2023, 10:39  Uhr

Mit höchster Konzentration, ganz behutsam, Schicht für Schicht, trägt Ergin Taranci die vom Nieselregen feuchte Erde mit einer Baggerschaufel ab. Nur eine unbedachte Bewegung, ein zu tiefes Ansetzen reicht, um die unter der Erde womöglich liegenden Funde zu beschädigen. Taranci ist erfahren, er leistet Präzisionsarbeit. Mit Argusaugen beobachtet der Archäologe Ali Çulluoğlu, pechschwarzes Haar, Vollbart, olivgrüne Hose, den Boden und die frisch abgetragene Erde auf der Schaufel, bevor der versierte Baggerführer sie auf einen Haufen bereits abgetragener Erde wirft. Immer wieder folgt der gleiche Vorgang. Schicht für Schicht. Bis nackter Felsen zum Vorschein kommt.

Es ist Tag drei der Ausgrabungen an diesem ersten Donnerstag im Dezember in einem leicht abschüssigen Waldstück ganz in Zyperns Norden unweit des Dorfes, das griechisch Bellapais und türkisch Beylerbeyi heißt. Noch haben die Forensiker Çulluoğlu und Co. nichts gefunden. Was sie beharrlich suchen: menschliche Überreste. Schädel, Knochen, Knochensplitter, auch noch so winzige. Aber auch Gegenstände: Ringe, Uhren, Kleidung, Schuhe. Ebenso Goldzähne. Sie suchen alles, was sie zu den Vermissten führen könnte.

Ihre Spuren verlieren sich während der türkischen Invasion Zyperns im Sommer 1974, in dem die Insel, am Schnittpunkt von Orient und Okzident gelegen, schlagartig in das Interesse der Weltöffentlichkeit rückt. Türkische Truppen landen am 20. Juli 1974 im Norden der Insel. Die Türkei weitet ihre Invasion ab dem 14. August 1974 massiv aus. Das führt zur faktischen Teilung von Zypern. Sie dauert bis heute an. Nikosia ist die letzte geteilte Hauptstadt der Welt. Die Grenze verläuft mitten durch die Altstadt.

„Wir graben hier bis zu einen Meter tief. Finden wir an dieser Stelle nichts, graben wir daneben weiter“, erklärt Çulluoğlu. Sein sechsköpfiges Team, drei griechische und drei türkische Zyprioten, ist vom CMP, dem Committee on missing Persons in Cyprus (Komitee für die Vermissten in Zypern). Die von CMP-Ermittlern gewonnene Information, wonach an dieser Stelle drei Vermisste, darunter zwei Zivilisten und ein Offizier, alle griechische Zyprioten, begraben sein sollen, sei von einem Augenzeugen, somit einer Topquelle. Çulluoğlu hebt die Augenbrauen. „Nur wenn der Hinweis stichhaltig ist, haben wir eine Chance, fündig zu werden.“

Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto schwieriger ist es, die Vermissten zu finden

Çulluoğlu weiß, wovon er redet. Er arbeitet schon lange für das CMP. Die Faustregel lautet: Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto schwieriger wird es für die Ermittler von CMP, fundierte Angaben darüber zu finden, was aus den Vermissten geworden ist, wo sie begraben liegen. Zeitzeugen sterben. Wer noch lebt, der kann sich kaum oder gar nicht mehr daran erinnern oder vertut sich, die richtige Stelle für eine Ausgrabung zu finden.

Die Suche nach den Vermissten in Zypern betrifft ursprünglich genau 2.002 Personen. So viele stehen auf der offiziellen Liste vom CMP, im Jahr 2006 erstellt. 1.510 Fälle betreffen griechische, 492 Fälle türkische Zyprioten. Maßgeblich türkisch-zypriotische Zivilisten verschwinden bei heftigen Zusammenstößen zwischen beiden Volksgruppen. Sie nehmen am 21. Dezember 1963, vor genau sechzig Jahren, in der Altstadt von Nikosia ihren Anfang. In den nächsten Tagen und Wochen heizen Radikale und Nationalisten beider Lager den Konflikt an. Bewaffnete griechische Zyprioten wollen die Enosis, die Vereinigung von Zypern mit Griechenland. Demgegenüber streben bewaffnete türkische Zyprioten die Teilung Zyperns an: Taksim. Die Extremisten prallen aufeinander.

In ganz Zypern werden Bewohner getötet, verletzt – oder sie verschwinden. Die Ereignisse ab dem 21. Dezember 1963 sind nach Lesart der griechischen Zyprioten ein „türkisch-zypriotischer Aufstand“. Die türkisch-zypriotische Seite nennt sie „blutige Weihnachten“. Sie gelten als Vorbote für die Zuspitzung im Zypernkonflikt im Sommer 1974, in dem das Gros der Vermissten auf der CMP-Liste verschwindet.

Die Vermissten zu finden, ist ein ungeheuer zähes, mühsames, schwieriges Unterfangen. In fünf Phasen. Zuerst sichern die Ermittler von CMP ausreichende Informationen. Das ist die Phase eins. Dann treten die Archäologen in Aktion. Das ist die Phase zwei.

Das CMP hat 1.583 Ausgrabungen seit dem Beginn seiner Tätigkeit im Jahr 2006 durchgeführt, im Schnitt rund neunzig Ausgrabungen pro Jahr. Gegenwärtig laufen sechs Ausgrabungen. Fünf in Zyperns Norden, eine im Süden. Die größte befindet sich im Norden: In dem Dorf Atlilar (griechisch: Aloa) befindet sich ein Massengrab. Viele Knochen sind zu sehen, ein schauderhafter Anblick. 37 Personen aus dem Dorf gelten als vermisst, auch sie seit dem Sommer 1974. Alle sind türkisch-zypriotische Zivilisten. Frauen, Kinder, Alte.

Bei bisher 351 Ausgrabungen, rund einem Viertel aller Ausgrabungen, fand das CMP menschliche Überreste von 1.223 Personen. 1.036 Individuen konnten identifiziert werden. Dabei handelt es sich um 743 griechische und 293 türkische Zyprioten. 966 Personen der CMP-Liste gelten weiter als vermisst. Davon sind 767 Personen griechische und 199 türkische Zyprioten.

Die Angehörigen der Vermissten leiden bis heute. Viele haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihre Liebsten noch am Leben sind. Mustafa Kemal Gökeri glaubt hingegen nicht, dass sein Vater noch lebt. „Er ist getötet worden“, ist sich Gökeri sicher. Was bleibt: dessen Überreste endlich zu finden. Seit fast sechzig Jahren wartet er nun schon darauf. Bisher vergeblich.

Das Treffen mit ihm findet in Nord-Nikosia statt. Draußen regnet es in Strömen. Gökeri, ein schlanker, großgewachsener Mann, ist sechs Jahre alt, als sein Vater Cengiz Ratip am 14. Februar 1964 in ihrem Heimatort Ort Polis in Zyperns Südwesten verschwindet. Tür an Tür leben damals in Polis griechische und türkische Zyprioten. Sein Vater sei mit einem Freund im Auto gesessen, in einem nagelneuen, blauen Fiat. Plötzlich seien sie beschossen worden, wie Gökeri erzählt wird. Seither fehle von beiden jede Spur. Auch der Fiat wurde nie gefunden.

Ein Portrait von Cengiz Ratip in einem goldenen Bilderrahmen

Cengiz Ratip rettete auch griechische Zyprioten Foto: Ferry Batzoglou

Sein Vater, ein Abgeordneter in Zyperns Parlament, sei ein gemäßigter Politiker gewesen. „Er setzte sich für die Koexistenz der beiden Volksgruppen auf Zypern ein“, unterstreicht Gökeri. Dabei riskierte er auch sein eigenes Leben. Hohe Wellen schlägt seine mutige Tat, von Polis in den Ort Kokkina (türkisch: Erenköy) zu fahren, um einen Bus voller entführter griechischer Zyprioten zu retten. Cengiz Ratip gelingt es, die türkisch-zypriotischen Entführer dazu zu überreden, die Insassen freizulassen. Cengiz Ratip ist stets darum bemüht, während der Konflikte zwischen den beiden Volksgruppen die aufgeheizte Stimmung in Polis und anderswo wieder zu beruhigen. Auch an jenem 14. Februar 1964, als er beschossen wird und verschwindet. „Ich war zwar noch klein. Ich kann mich jedoch daran erinnern, dass meine Mutter ständig weinte“, sagt Gökeri.

Groll, Wut oder gar Hass empfinde er nicht. Im Gegenteil. „Wir Zyprioten sollten daran arbeiten, dass so etwas nie wieder passiert, was meinem Vater zugestoßen ist.“ Sein größter Wunsch sei, dass die Überreste seines Vaters gefunden werden, bevor seine Mutter stirbt. „Sie ist 96 Jahre alt. Ich will, dass sie seine Überreste noch sieht und wir ihn angemessen bestatten können.“ Auch Nikos Sergidis wartet. Darauf, dass die Überreste seines jüngeren Bruders gefunden werden. Iosif Sergidis, geboren am 1. April 1953, beginnt seinen obligatorischen Wehrdienst in der zypriotischen Nationalgarde, der Ethniki Froura (EF), im Juli 1972. Im Juli 1974, nach 24 Monaten, wäre sein Wehrdienst abgelaufen.

Doch es kommt alles anders. Denn am 15. Juli 1974 putschen Offiziere der EF mit Unterstützung der griechischen Militärjunta in Athen gegen Zyperns Präsidenten, den Erzbischof Makarios III. Ziel des Putsches ist der Anschluss Zyperns an Griechenland, die Enosis. Dazu kommt es nicht. Denn fünf Tage später (am 20. Juli 1974) beginnt die Invasion der Türkei mit der Landung regulärer türkischer Truppen im Norden der Insel unter dem Decknamen Attila I. Schnell kontrollieren sie etwa drei Prozent der Inselfläche. Nach einer Waffenruhe nutzt die Türkei ab dem 14. August die Präsenz ihrer Truppen zu einer völkerrechtswidrigen Besetzung von Zyperns Norden. Das Gebiet Nordzyperns, das durch die Operation Attila II besetzt wird, macht 37 Prozent der Insel aus.

Beide Seiten verüben Gräueltaten. Es gibt Vermisste. Und viele Vertriebene. Griechische Zyprioten, die mit insgesamt 506.000 Bewohnern 79 Prozent der Inselbevölkerung stellten, werden aus dem türkisch besetzten Teil Zyperns vertrieben oder flüchten in den Süden der Insel. Umgekehrt verlassen türkische Zyprioten, die mit insgesamt 118.000 Bewohnern 19 Prozent der Inselbevölkerung ausmachen, den Süden der Insel in Richtung Norden.

Iosif Sergidis, Scheitel, Brille, kämpfte gegen die türkischen Invasoren. „Wir waren eine sehr verbundene Familie. Mit sieben Söhnen. Ich bin der zweitälteste, Iosif der fünfte“, sagt sein Bruder Nikos Sergidis. Er überreicht ein Schwarzweißfoto. Iosif sieht ihm verblüffend ähnlich. Nikos Sergidis sitzt im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes in Süd-Nikosia in den Büros der Panzypriotischen Vereinigung der Angehörigen nichtgemeldeter Kriegsgefangener und Vermisster. Vor ihm liegt eine Akte mit braunem Deckblatt. Es ist die Personalakte seines vermissten Bruders. Aktennummer: 899.

„Das letzte Mal habe ich meinen Bruder in der Waffenruhe Anfang August gesehen“, erinnert sich Nikos Sergidis. Dann sei Iosif Sergidis wieder an die Front im Norden gegangen. „Er war eine Hüne von Mann“, so Nikos Sergidis. Zum Verhängnis wird Iosif Sergidis der Kampf auf dem strategisch bedeutsamen Labatsa-Hügel im Nordwesten von Zypern zwischen den Dörfern Kontemenos (türkisch: Kiliçarslan) und Skylloura (türkisch: Yilmazköy).

Ein Mann hält das Portrait eines vermissten Angehörigen in den Händen

Der griechische Zypriot Nikos Sergidis mit dem Foto seines vermissten Bruders Iosif Foto: Ferry Batzoglou

Der 21-Jährige leitet einen Zug aus zwei Dutzend Infanteristen. Der Kampf von Sergidis’ kleiner Einheit gegen die türkischen Invasoren beginnt am 15. August in der Mittagshitze um drei Uhr, er dauert zweieinhalb Stunden. Sergidis und seine Soldaten kämpfen tapfer, haben aber gegen die Übermacht der türkischen Truppen, die sie zudem mit der Luftwaffe beschießt, keine Chance.

„Ich sah etwa 30 bis 35 tote Körper des Feindes herumliegen. Die Luft stank fürchterlich. Ich wollte ihre Gewehre einsammeln, aber einige meiner Soldaten mussten sich übergeben. Der Geruch war unerträglich. Sofort zog ich meine Soldaten zurück. Die Gewehre ließ ich bei den Leichen liegen. Als ich zu meinem Regiment zurückkehrte, befahl ich meinen Soldaten, ihre Kleidung zu verbrennen und ein Bad zu nehmen. Später informierte mich ein Oberstleutnant, dass sie die Waffen einsammeln und die Gegend bereinigen“, schreibt der damalige türkische Kommandeur Turan Erdem in seinen Memoiren.

Das 1999 in Ankara auf Türkisch herausgegebene Buch hat Nikos Sergidis gefunden. „Das Gelände wurde vom CMP gründlich untersucht. Dabei fand man Knochensplitter. Etwa 300. Sie lagen verstreut herum. Ein bis zwei Zentimeter lang, der längste sechs Zentimeter. Dazu noch einen Zahn. CMP fand heraus, wem der Zahn gehörte. Der Zahn wurde der Familie übergeben. Die Beerdigung in einem Friedhof fand mit diesem Zahn statt“, sagt er. Sein Bruder Iosif bleibt vermisst, fast 50 Jahre nach dem Kampf auf dem Labatsa-Hügel. Dennoch sagt Nikos Sergidis mit fester Stimme: „Wir können mit den türkischen Zyprioten friedlich zusammenleben.“

Die drei großen, braunen Pappkartons mit der Aufschrift „Labatsa Hill“ stehen im obersten Fach eines Metallregals im Lagerraum des anthropologischen Labors des CMP. Es liegt in der Schutzzone der UN-Friedenstruppe auf dem weitläufigen Gelände des seit dem Sommer 1974 verwaisten Flughafens in Nikosia. Erstmals seit Jahren erhält ein internationales Medium Zugang zum Labor. Was der seltene Einblick zeigt: Das Labor besteht aus zwei Räumen zur Aufbewahrung der exhumierten Überreste sowie aus zwei Bereichen für deren Analyse. Das ist die Phase drei.

DNA-Analyse winziger Knochen

Der Fall Labatsa-Hügel habe sie vor große Herausforderungen gestellt, räumt das Teamleiter-Duo aus der griechischen Zypriotin Theodora Eleftheriou und ihrer türkisch-zypriotischen Kollegin Engin Istenc gegenüber der taz ein. „Jeder Mensch hat 206 Knochen. Das CMP fand 2009 auf dem Labatsa-Hügel kleine bis winzige Knochensplitter. Sie passten gerade auf zwei Tische“, erinnert sich Theodorou. Es habe kein Grab gegeben. Das erschwere eine anthropologische Analyse sehr. „Liegen Knochen viele Jahre auf der Bodenoberfläche, verändert sich im Sonnenlicht ihre Farbe. Sie sind nicht mehr dunkelbraun bis schwarz, sondern weiß.“

Die Aufgabe des Duos: die exhumierten Überreste analysieren, um die Identität einer vermissten Person festzustellen. Zwei bikommunale Teams unter Leitung von Eleftheriou und Istenc erstellen ein biologisches Profil der Person, einschließlich Geschlecht, Größe, Alter zum Zeitpunkt des Todes und anderer individueller Merkmale. Kleine Knochenproben werden entnommen und zur DNA-Analyse in die USA geschickt.

„Das ist ein zerstörerischer Prozess. Der Knochen wird zu Puder zermahlen. Das geht verloren“, erklärt Istenc. Es bleibt keine andere Wahl. Diese Analysen führen zur Identifizierung vermisster Personen. Die Proben werden mit den genetischen Profilen der Verwandten der Vermissten abgeglichen. Eine DNA-Identifizierung gilt erst dann als erfolgreich, falls eine Übereinstimmung zu 99,95 Prozent erreicht oder überschritten wird.

Die Ergebnisse werden an das CMP-Labor zurückgeschickt. Das Genetikerteam des CMP, bikommunal von der türkischen Zypriotin Gülbanu Zorba und ihrer griechisch-zypriotischen Kollegin Katerina Papaioannou geleitet, untersucht und bestätigt die Übereinstimmung. Das ist die Phase vier. Im Fall Labatsa-Hügel dauerte es zwölf Jahre, bis das CMP insgesamt 20 Personen zweifelsfrei identifizierte. Vier Personen bleiben vermisst. Darunter ist Iosif Sergidis.

Für Leonidas Pantelidis ein Ansporn, so lange nicht locker zu lassen, bis die Überreste der übrigen 966 Vermissten der CMP-Liste gefunden werden. Seit Mitte 2019 ist er das von der Republik Zypern entsandte griechisch-zypriotische Mitglied im CMP. Pantelidis war in Washington und Moskau Zyperns Botschafter. Ein Top-Diplomat.

Er empfängt in seinem Büro in einem Regierungsgebäude im Süden von Nikosia. „Ich erhielt einen Anruf vom damaligen Staatspräsidenten Nikos Anastasiadis. Er bat mich, den vakanten Posten zu übernehmen. Um ehrlich zu sein, ich habe ihn um Bedenkzeit gebeten. Ich wusste, dass dies eine unglaublich schwierige Aufgabe ist. Ich entschied: Das ist etwas Einzigartiges. Ich mache das!“

Sein türkisch-zypriotisches Pendant ist Hakki Müftüzade, auch ein früherer Diplomat. Den Besucher empfängt er in seinem Büro in Nord-­Nikosia. Er lässt türkischen Tee servieren. „Mit ­Leonidas verstehe ich mich blendend“, wie Hakki Müftüzade betont.

Zwei Frauen stehen in einem Büroraum eng beieinander

Foto: Ferry Batzoglou

Beide, Pantelidis und Müftüzade, blicken nicht in die Vergangenheit. Sie wollen die Überreste der Vermissten finden. Unerheblich sei es, welcher Volksgruppe sie angehören, wie sie unisono betonen. Egal sei ebenso, ob sie bei den gewalttätigen Ereignissen 1963, 1964 oder 1974 verschwunden seien. Ihr Ziel: Angaben über den Verbleib der Vermissten einholen, die Überreste suchen, analysieren, identifizieren. Alles gemeinsam.

Das CMP ist ein Hort der Versöhnung beider Volksgruppen. Mit Vorbildfunktion. Ob Eleftheriou, Istenc, Zorba, Papaioannou oder das übrige CMP-Personal: Sie gingen je nach Volksgruppe in getrennte Schulen, kamen nie in Berührung, obgleich sie auf der gleichen Insel leben. Im CMP lernte man sich kennen, schmiedete Freundschaften. Ein junges, ambitioniertes Team. Ihre gemeinsame Sprache im Job und nach Feierabend: Englisch. Gülbanu Zorba sagt: „Wenn Katerina erkrankt, leide ich mit ihr. Umgekehrt genauso.“ Katerina Papaioannou nickt lächelnd.

Für den Forensiker Mete Tosun, einen türkischen Zyprioten, bot die Arbeit im CMP eine ganz persönliche Erfahrung. Tosun fand 2014 bei einer Ausgrabung einen goldenen Zahn. Er führt zu Fahri Totkuy, den Mann seiner Tante, wie er enthüllt. Totkuy, ein Gemüsehändler, war seit 1963 vermisst. „Er wurde auf der Straße entführt.“ Dass ausgerechnet er seine Überreste fand, habe ihn „ziemlich aufgewühlt“. „Ich versuche, professionell damit umzugehen“, sagt Mete Tosun der taz auf dem Areal der Ausgrabung in Bellapais/Beylerbeyi. Man sieht, dass er hier mit der gleichen Hingabe die Überreste griechischer Zyprioten sucht.

Den bikommunalen Charakter des CMP zu betonen, liegt auch Bruce Koepke am Herzen. Der Deutschaustralier ist das, wie es heißt, „dritte Mitglied“ im CMP. Seit 19 Jahren arbeitet Koepke für die UNO, stets in Konfliktzonen. Er war in Afghanistan, im Irak, im Jemen. „Meine Aufgabe ist es, beide Seiten zu ermutigen, die fruchtbare Kooperation fortzusetzen“, sagt er im CMP-Gebäude des UNO-Mitglieds in der „Grünen Linie“ in Nikosia, der UNO-Pufferzone unter Verwaltung der UN-Friedenstruppen.

Bruce Koepke, CMP-Mitglied

„Meine Aufgabe ist es, beide Seiten zu ermutigen, die fruchtbare Kooperation fortzusetzen“

„Das CMP lebt vom Konsens aller drei Seiten – der griechisch-zypriotischen, der türkisch-zypriotischen und der UNO“, so Koepke. Dem CMP gehe es bewusst nicht um eine historische Aufarbeitung der Geschehnisse. „Die Arbeit des Komitees hat laut CMP-Mandat ­einen zutiefst humanitären Charakter“, so Koepke.

Das würdigt die Staatengemeinschaft. Die EU hat dem CMP seit 2006 knapp 36 Millionen Euro gespendet, allein 2,6 Millionen Euro in diesem Jahr. Gut 10 Millionen Euro steuerten ferner 19 Staaten bei, darunter auch Deutschland. Ebenso helfen Privatspender. Das CMP-Budget beträgt in diesem Jahr 3,2 Millionen Euro. Etwa die Hälfte der Ausgaben betreffen Ausgrabungen und Exhumierungen.

Was Koepke im Gespräch mit der taz umtreibt: „Unsere Kosten steigen. Der Treibstoff, das Material, das Mieten von Baumaschinen und anderen Fahrzeugen, die DNA-Analysen, der gesamte Aufwand. Viele Stellen, wo Vermisste vermutet werden, sind mittlerweile zugebaut und müssen nach einer Ausgrabung restauriert werden. Die Kompensationskosten verteuern die Ausgrabungen immens.“ Fest steht: Das Knowhow des CMP ist gefragt. Spezialisten aus aller Welt, die Vermisste in ihren Ländern suchen, kommen nach Zypern. Gerade sind Experten aus Aserbaidschan im CMP-Labor, eine Delegation aus Irland hat sich angekündigt.

Rückgabe an Angehörige

Der Höhepunkt der Arbeit des CMP ist die Rückgabe der Überreste an die Angehörigen. Das ist die Phase fünf. Das geht so: Betroffene Familienangehörige werden in den sogenannten Viewing Room des CMP eingeladen. Dort treffen sie die an der Identifizierung beteiligten CMP-Wissenschaftler in einem eigens dafür vorgesehenen Raum. Per Powerpoint-Präsentation erhalten sie einen Einblick in den Prozess von der Phase eins bis vier. Auf einem Tisch befinden sich die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen, auf einem kleineren Tisch dahinter ist ein großes Foto von ihm oder ihr aufgestellt. Psychologen vom CMP helfen bei den Vorbereitungen für die Beerdigung. Wünscht es die Familie, bieten sie ihre Hilfe bis zu zwei Jahre nach der Beerdigung an.

Angela Ioannou, eine griechische Zypriotin mit einer einfühlsamen Stimme, hat schon viele Rückgaben der Überreste mitverantwortet. Im CMP-Viewing-Room beschreibt sie der taz die hoch emotionalen Szenen, die sich hier abspielen. „Jede Familie ist anders. Manche weinen. Andere sind stumm. Es ist in diesem Moment für sie so, als ob ihr Angehöriger erst gestern verstorben ist.“

Der Wunsch einer älteren Dame habe sie sehr gerührt, offenbart Angela Ioannou. Ihr Sohn, ein Soldat der Zypriotischen Nationalgarde, verschwindet im Sommer 1974. „Sie hatte einen Anzug mit dabei. Eine schwarze Hose, ein schwarzes Sakko und ein weißes Hemd. Sie sagte mir: ‚Angela, ich habe auf ihn gewartet. Jetzt ist mein Sohn da‘. Sie sagte mir dann: ‚Ich habe seinen Anzug aufbewahrt. Jetzt ist der Moment, wo er ihn anhaben soll.‘“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.