Künstler über Ästhetik als empowerment: „Auf Augenhöhe begegnen“

Der Hamburger Künstler Günter Westphal hat mit dem Werkhaus einen Ort für junge Obdachlose geschaffen. Ein Gespräch über freie Zeit und Selbstfindung.

Der Hamburger Künstler Guenter Westphal in einem Raum des Werkhauses

Foto: Miguel Ferraz

taz: Sie haben das Hamburger Münzviertel ein gallisches Dorf genannt. Was ist gallisch daran, Herr Westphal?

Günter Westphal: Wir sind dieser kleine Ort unterhalb des Hauptbahnhofes, der für eine partizipative Stadtentwicklung kämpft. Partizipation heißt für mich, gemeinwohlorientiert auf Augenhöhe mit allen Beteiligten zu planen und zu gestalten. Politiker*innen, Stadt­ent­wick­le­r*in­nen haben alle ein unterschiedliches Expertenwissen, wir haben eines über das nachbarschaftliche Miteinander – und das ist gleichberechtigt.

Wer wären Sie selbst im gallischen Dorf – Miraculix?

Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht … Wir sind eine Gemeinschaft. Ich habe die Stadtteilinitiative mit anderen Münz­viert­le­r*in­nen vor 20 Jahren gegründet und vor zehn Jahren das Werkhaus, eine Tagesstätte für junge obdachlose Menschen. Und diese Aktivitäten dann bewusst durchgehalten. Es ist mein Lebenselixier, künstlerische Kriterien mit den Menschen vor Ort in die Stadtplanung mit einzubringen.

Was bedeutet das „bewusst durchgehalten“?

Wenn verschiedene Leute miteinander arbeiten, kann man von den anderen enttäuscht werden, weil sie etwas nicht oder nicht so wie gedacht machen. Aber ich habe für mich eben entschieden, das zu machen. Somit bin ich nur mir selbst gegenüber verantwortlich und kann von den anderen keine Verantwortung einfordern.

Was für Leute leben im Münzviertel?

Ganz unterschiedliche: Studierende, Obdachlose und linke Aktivist*innen. Unser Hauptmerkmal ist, dass wir der Hinterhof des Hauptbahnhofs sind, wir haben hier ganz viele soziale Einrichtungen, die man auf der anderen Seite des Bahnhofs nicht haben möchte. Dann haben wir das „Viertelzimmer“ und den „Münzgarten“, wo wir uns als Nach­ba­r*in­nen treffen. Und seit etwa zehn Jahren wird das Viertel von einer übergroßen Zahl von grobklotzigen Hotelneubauten bedrängt.

Nach zehn Jahren Werkhaus: Was ist gelungen und was gescheitert?

Am Werkhaus ist nichts gescheitert. Es ist ein Identität stiftendes Spiegelbild für unsere gemeinwesenorientierten Stadtteilaktivitäten. Mit dem Werkhaus haben wir Räume geschaffen, in denen wir uns mit den Werk­häus­le­r:in­nen auf Augenhöhe begegnen.

Wie kann man sich das praktisch vorstellen?

Wir haben Personal, das versucht, neben sozialpädagogischer Beratung den Tag zu strukturieren – gemeinsames Frühstücken, Mittagessen –, und es gibt Künstler:innen, die sechs Monate hier sind und sich in der Schnittstelle von Kunst und Sozialem ausprobieren. Und wir haben Werkstätten, wo die Werk­häus­le­r:in­nen spüren können, ob sie gut mit Holz umgehen können oder mit Fahrrädern oder etwas anderem.

Sie haben mal geschrieben: „Es geht um Widerstand gegen die Objektivierung des einzelnen durch andere“. Ist das eine Sprache, die die Teilnehmenden erreicht?

Die Werk­häus­le­r:in­nen kommen nicht her, um Künstler zu werden, sondern sie werden berührt von Kunst und nehmen sich selbst als individuelles Subjekt wahr. Bei jedem Menschen, und das ist für mich das Arbeitsfeld von Kunst, entsteht über die sinnliche Empfindung und unmittelbare Wahrnehmung des anderen überhaupt erst das Bewusstsein vom eigenen Ich, aber partizipativ auch vom anderen.

Ist das nicht ein sehr idealistisches Konzept?

Ich bin jetzt 81 und ich habe nie geglaubt, dass wir nach der NS-Zeit wieder so viele Katastrophen erleben müssen. Deswegen hängt das große Foto dort als Mahnung …

Es zeigt zwei jüdische Lehrerinnen, die an der Volksschule für Mädchen unterrichtet haben, da, wo heute das Werkhaus ist. Sie wurden von den Nazis ermordet.

Sie bewachen unser Tun.

Was, glauben Sie, liegt in der Ästhetik, das sich dem entgegenstemmt?

Ästhetik und Ethik sind verschwistert.

81, gelernter Fotograf, studierte 1966–72 an der Hamburger Kunsthochschule. 1974–79 war er Pflegehelfer in einem Hamburger Altersheim.

Im Jahr 2013 gründete Westphal das „Werkhaus Münzviertel zur Verschränkung von Pädagogik, Kunst und Quartiersarbeit“ in Hamburg mit: ein niedrigschwelliges Angebot für wohnungslose und geflüchtete junge Erwachsene. Es bietet die Möglichkeit, sich künstlerisch und handwerklich auszuprobieren und will damit Pädagogik, Kunst und Quartiersarbeit verbinden. Daneben gibt es auch Frühstück und Duschgelegenheiten.

Träger des Werkhauses sind der Verein „Kunstlabor naher Gegenden“ und die gemeinnützige Gesellschaft „passage Hamburg“. Internet: https://werkhaus-muenzviertel.de

Könnten Sie diese Verbindung noch einmal erklären?

Bleiben wir bei der Rose, auch wenn das ein Klischee ist. Es ist eine Entscheidung zu urteilen, ob sie schön oder hässlich ist. In dem Moment, wo ich auf etwas reagiere und entscheide, ob empathisch oder abweisend, die Natur bewahre oder ausbeute, dann ist das Ethik. Wenn ich dann aktiv werde und etwas gestalte wie beim Fotografieren oder Bildermalen die Natur pflege, bin ich bei der Ästhetik. Stets kommt der erste Impuls zu reagieren und zu entscheiden über das sinnliche Empfinden und unmittelbare Wahrnehmen.

Wenn junge Leute hierherkommen, haben sie das Gefühl, dass Tischlerei sie für die Zukunft rüstet?

Hier wird es ein bisschen kompliziert, wir haben ein großes inhaltliches Problem: Die Werk­häus­le­r:in­nen entscheiden selbst, wann sie zu uns kommen und wie lange sie bleiben. Denn das Hauptziel des Werkhauses ist es, den Werk­häus­le­r*in­nen eine ungebundene Zeit ohne administrativ vorgegebenen Zeittakt zur eigenen Selbstfindung, vielleicht zum Tischlerberuf einzuräumen. Wir werden über die Sozialbehörde finanziert – da gibt es den Begriff der ungebundenen Zeit nicht. Dort heißt es, ist jemand eine, zwei Stunden oder Tage hier, je nachdem gilt eine andere Kategorie der Finanzierung. Deswegen versuche ich und hoffe über die Kulturbehörde eine Finanzierung zu erreichen: für den auf den Menschen bezogenen Kunstbegriff der ungebundenen Zeit.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Kulturbehörde?

Vor einem Jahr habe ich mit dem Werkhaus im alten Karstadt-Sport-Gebäude im Rahmen von Kunst im öffentlichen Raum den „werkhaus 2.0“-Info-Kiosk betrieben. In dessen Nachfolge haben wir versucht, für 2024 dort ein Reallabor „Herberge für obdachlose Menschen“ einzurichten: eine Anlaufstelle für obdachlose Menschen, die sich im Keller hätten duschen können und im Haus mit einbringen. Aber das hat man abgelehnt.

Wer ist „man“?

Die Kreativgesellschaft, die zur Kulturbehörde gehört. Der Wunsch, dass die Obdachlosen raus sollen aus der benachbarten Mönckebergstraße, weil sie den Konsum stören, ist in der Kreativgesellschaft tief verankert. Dort, wo wir das Real­labor einrichten wollten, ist jetzt eine Kaffeerösterei.

Sie haben nach Ihrem Kunststudium den Schritt in eine andere Welt getan und in der Altenhilfe gearbeitet. Wie kam es dazu?

Für mich als 68er war es nach dem Studium selbstverständlich, dass ich in den sozialen Bereich gehe, aber immer als Künstler. Im Pflegeheim habe ich als Beschäftigungstherapeut gearbeitet, es war die Zeit, in der die Heimbeiräte eingeführt worden. Das hat mich interessiert und ich habe dann dort fast zehn Jahre gearbeitet.

Was konnten Sie dort praktisch tun?

Ich habe mit den Heim­be­woh­ne­r:in­nen Körbe geflochten, gemeinsam fotografiert und Ausflüge unternommen, immer dicht am Menschen dran. Und ich habe eine kritische Foto-Buch-Reportage über das Pflegeheim und die Heimbeiräte gemacht, die als Hilfspolizei mit einer Zigarre bei Kaffee und Kuchen abgespeist wurden und aufpassen sollten, dass die anderen Be­woh­ne­r:in­nen nicht so viel trinken.

Wie nahe sind sich Fotografie und soziale Arbeit?

Als gelernter Fotograf geht es mir stets um ein Erschauen, Erspüren und Umwerben der Gegenstände, die ich fotografieren möchte, um diese damit ins bestmögliche Licht rücken zu können.

Sie grenzen Ihr Projekt deutlich von der elitären Hochkultur ab – so deutlich, dass man sich fragt, woher die Tiefe der Abneigung kommt.

Das liegt an der Ökonomisierung von Kunst und diesem sehr bürgerlichen Kunstverständnis, wo ein Museum wie eine Kathedrale ist, in die man die einfachen Leute möglichst nicht reinlässt. Meine Kunst versteht sich immer als ein Arbeiten mit den Menschen.

Ich stelle es mir nicht einfach vor, all das als Gründer irgendwann auch loszulassen.

Ich bin jetzt in der Situation. Irgendwann ist es die Sache der Jungen und nicht mehr meine. Da sind fantastische Leute, die das auf ihre Art fortführen werden.

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